Die Spiele haben begonnen
Abfahrt. Bernhard Russi war einst Franz Klammers härtester Konkurrent. Jetzt plant, schafft und findet er Rennpisten – auch in Pyeongchang.
Super-G-Titelverteidigerin Anna Veith führte Österreichs Delegation bei der Eröffnungsfeier an. Ab heute wird in Südkorea um Olympiamedaillen gelaufen, gefahren und gerodelt.
Die Presse: Herr Russi, die Olympia-Abfahrt in Jeongseon ist nicht frei von Kritik, es sollen bis zu 100.000 Bäume gefällt worden sein. War das wirklich notwendig, gab es keine Alternativen? Bernhard Russi: Ich arbeite jetzt 17 Jahre am Projekt Pyeongchang, war das erste Mal 2001 hier. Ich kann den Berg nicht anders formen, als er ist, aber ich kann Ihnen versichern: Wir haben so eng wie nur möglich mit Naturschützern zusammengearbeitet. Für jeden abgeholzten Baum wurden an einem anderen Ort drei neue gepflanzt. Die Schwierigkeit war es, einen Berg zu finden, der den FISVorgaben (800 Meter Höhenunterschied, Anm.) entspricht. In Jeongseon haben wir ihn gefunden, nachdem wir die Landkarten studiert hatten. Die Auswahl war aber nicht sonderlich groß.
Kjetil Jansrud meinte nach einem ersten Kennenlernen der Strecke, die Abfahrt sei „leicht“. Verstehen Sie das auch als persönliche Kritik? Nein, das berührt mich überhaupt nicht, im Gegenteil. Wenn ein Läufer behauptet, eine Abfahrt sei leicht, dann erwarte ich von ihm, dass er sie gewinnt. Wenn er das nicht tut, hat er die Probleme der Strecke nicht gelöst. Jeongseong ist keine Abfahrt, bei der sich Läufer extrem überwinden müssen, aber wenn ich sehe, dass sich manche vor einem Sprung früher aufrichten, sieht man doch, dass Respekt vorhanden ist. Würden nach einer neuen Abfahrt alle zu mir kommen, mir auf die Schulter klopfen, dann wäre doch etwas faul.
Was macht diese Strecke denn olympiawürdig? Ich finde sie abwechslungsreich, mit Geländeübergängen, engen Stellen und einer Traverse im oberen Abschnitt, die dunkel, steil, nach links hängend und unruhig ist. Charakteristisch sind die vier guten Sprünge. Es handelt sich bestimmt nicht um eine wilde Abfahrt. Aber um zu gewinnen, muss man sehr gut Ski fahren.
Das muss man allerdings immer. Fehlt nicht etwas Spektakel? Wenn es nach mir ginge, sind die Sprünge immer noch zu kurz (lacht). Abfahrer sind spezielle Typen, sie wissen besser als alle anderen, mit Geschwindigkeit umzugehen. Sie wären oftmals zu mehr fähig, als wir verlangen, aber es ist immer eine Gratwanderung. Das dürfen wir nie vergessen.
Hat der Abfahrtssport Probleme, welche Konkurrenz muss er fürchten? In der Öffentlichkeit waren Abfahrer immer die wilden Hunde. Heute kämpfen sie um dieses Image. Es gibt Freestyler, die wie Verrückte über Felswände springen, die die wildesten Dinge machen, im Internet ihre Plattform finden. Wir müssen also schon aufpassen, dass die Abfahrt nicht zu zahm wird.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie Talent im Entwerfen von Abfahrtsstrecken haben? Das Ganze war ein glücklicher Zufall. 1982 hat mich die FIS nach Calgary geschickt und gebeten, mir dort die Abfahrt anzusehen. Dann bin ich zurückgekommen und habe den Verantwortlichen gesagt: „Die Abfahrt gefällt mir ganz gut, aber . . .“Dieses aber hat den Weltverband aufmerksam gemacht und alles Weitere auf den Weg gebracht. Danach kam der damalige FIS-Präsident, Marc Hodler, zu mir und meinte: „So, und jetzt zeigst du mir, wie du es machen würdest.“Dass ich gelernter Hochbauzeichner bin, hat mir dabei natürlich geholfen. Wie wird man Pistenplaner, was braucht es für Ihren Job? Es geht darum, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Und zu verstehen, welchen Charakter der Berg hat, was er mir sagen möchte. Gelände sind immer unterschiedlich. Für die Birds of Prey in Beaver Creek war alles vorhanden, da musste ich nur sagen: „Hier fahren wir durch.“Bei wirklich tollen Abfahrten braucht es nicht viele Ansagen. Die Centennial hingegen, auf der anlässlich der WM 1989 in Vail gefahren wurde, war eine Knochenarbeit. Diese Strecke war so flach, da war nichts drin. Ich musste mir alle Fingernägel abbeißen, um einen Charakter zu finden.
Würden Sie an der schwierigsten Abfahrt der Welt, der Streif in Kitzbühel, etwas verändern? Nein, behüte, ganz und gar nicht. Im Gegenteil, ich würde heute immer wieder gern alte Passagen bei neuen Strecken kopieren, aber die Entwicklung bremst mich. Man bewegt sich in einem engen Korsett, hat Vorstellungen von Platz und Sicherheit. Man hätte heute große Mühe, so etwas wie das Brüggli-S (heute Kernen-S, Anm.), den Hundschopf in Wengen oder die Kitzbüheler Steilhangausfahrt auf einer neuen Strecke einzubauen.
Was halten Sie von Sprintabfahrten, sind sie die Zukunft? Ich kann der Idee viel abgewinnen, weil wir uns im zweiten Lauf auf die 30 Besten aus dem ersten konzentrieren könnten. Es gäbe jetzt schon Rennen im Weltcup, die als Sprintabfahrt besser ankommen würden. Aber eines ist auch klar:
Ohne Mammutabfahrten wie Kitzbühel, Gröden oder Wengen geht es auch in Zukunft nicht.
An welche möglichen Sprintabfahrten denken Sie denn? Ich will wirklich niemanden beleidigen, aber es gibt Abfahrten mit wenig Tradition. Lake Louise zum Beispiel. Da würde das gut passen.
Könnte Marcel Hirscher eine Abfahrt gewinnen? Man darf niemals nie sagen. Dominik Paris oder Aksel Lund Svindal könnten keinen Slalom gewinnen, aber Hirscher sehr wohl eine Abfahrt. Er hat das Können. Nur, verfolgt er dieses Ziel auch?
Muss Hirscher einmal eine Abfahrt gewonnen haben, um ein wirklich Großer zu sein? Er hat doch schon Super-G und Kombination gewonnen. Wenn er nie eine Abfahrt gewinnen sollte, ist er um keinen Deut schlechter.
Bricht er Ingemar Stenmarks Rekord von 86 Weltcupsiegen? Das entscheidet nicht er, sondern seine Gegner. Du gewinnst Rennen immer, weil andere langsamer waren als du. Aber: Wenn Hirscher so weitermacht, ist ihm alles zuzutrauen. Allerdings: Was macht er, wenn er Olympiasieger wird?
Sie glauben, er würde aufhören? Ich weiß es nicht. Die Frage lautet nicht: Wann ist der richtige Zeitpunkt aufzuhören? Sondern: Wann ist der richtige Zeitpunkt, Neues zu beginnen? Mein Gefühl sagt mir, dass Hirscher auch in anderen Sphären zu Großem fähig ist.