Die Presse

„Humanitäre Lage in Syrien ist dramatisch wie nie zuvor“

Interview. Der UN-Koordinato­r für humanitäre Hilfe, Panos Moumtzis, schlägt Alarm.

- Von unserem Korrespond­enten KARIM EL-GAWHARY

„Wenn der Tod die Spitze erreicht, sind die Gräber zu klein“, heißt es in einem syrischen Sprichwort, das derzeit häufig in OstGhouta, einem von der Opposition kontrollie­rten Vorort von Damaskus, zitiert wird. Dort scheint man derzeit nirgends sicher zu sein. Onlinevide­os zeigen chaotische Szenen: Menschen kommen panisch aus den Häusern gelaufen, die Verletzten, darunter auch Kinder, werden zu Krankenwäg­en gebracht. Währenddes­sen fallen weitere Bomben. Seit Tagen wird die Gegend von Kampfflugz­eugen der russischen Luftwaffe und der Luftwaffe des Regimes von Bashar alAssad bombardier­t. Dutzende Menschen sind laut Syrischer Beobachtun­gsstelle gestorben.

Ost-Ghouta ist so wie die derzeit heftig umkämpfte Provinz Idlib in Norden des Landes eine der sogenannte­n Deeskalati­onszonen. Diese waren mit Russland, dem Iran und der Türkei ausgehande­lt worden. Aber das Regime in Damaskus versucht mit Hilfe von Milizen, die vom Iran kontrollie­rt werden, und Russlands Luftwaffe nun diese von der Opposition gehaltenen Gebiete zu erobern.

Die Situation dort ist so dramatisch, dass selbst die UNO aufschreit. Sie hatte sich bisher zum Schutz ihrer humanitäre­n Aktivitäte­n in Syrien eher zurückgeha­lten.

„Nachdem die Deeskalati­onszonen geschaffen worden waren, hatten wir zunächst die Hoffnung, dass wir dort Hilfsliefe­rungen hinbringen können. Idlib und OstGhouta sind zwei dieser Deeskala- ist seit September 2017 regionaler UNKoordina­tor für humanitäre Angelegenh­eiten in Syrien. Zuvor war er Flüchtling­skoordinat­or für Syrien und davor für Libyen. tionszonen. Aber in Wirklichke­it sind sie alles andere: Sie sind Reeskalati­onszonen. Es gibt dort ein dramatisch­es Anwachsen der Kampfhandl­ungen und der Not“, sagt Panos Moumtzis, der regionale UN-Koordinato­r für humanitäre Angelegenh­eiten in Syrien, im Gespräch mit der „Presse“.

Das größte Problem für die UNO sei, im Moment überhaupt Zugang zu den umkämpften Gebieten zu erhalten. Immer, wenn ein Hilfskonvo­i organisier­t wird, erteilt das Regime in Damaskus keine Genehmigun­g. „Seit zwei Monaten, seit dem 10. Dezember, haben wir keinen Zugang bekommen“, klagt der UN-Koordinato­r.

Manche Opposition­sgebiete sind von Regierungs­gebieten aus erreichbar. „Nehmen wir Ost-Ghouta: In dem von der Opposition kontrollie­rten Vorort von Damaskus leben 400.000 Menschen unter einer Belagerung. Wir haben seit zwei Monaten keinen Zugang mehr dorthin. 2,9 Millionen Menschen wohnen in solchen belagerten und für uns schwer zugänglich­en Gebieten“, sagt Moumtzis.

„Die Menschen dort sind abhängig von unseren Hilfsliefe­rungen. Der Zugang zu Nahrung und Hilfsliefe­rungen sollte niemals dazu verwendet werden, um politische­n Druck zu erzeugen“, erklärt der UN-Koordinato­r.

Auch Evakuierun­gen sind nicht mehr möglich. Mehr als 700 Schwerverl­etzte und Kranke hoffen derzeit, von der UNO aus OstGhouta herausgebr­acht zu werden, erklärt Moumtzis. Bisher ohne Erfolg. „Ost-Ghouta ist ein Vorort von Damaskus. Man müsste nur eine halbe Stunde mit dem Auto fahren und wäre schon in einem Spital“, sagt er und lässt seiner Frustratio­n freien Lauf.

Auch dringend benötigte Hilfsliefe­rungen können nicht in die belagerten Gebiete gebracht werden. „Vergangene­s Jahr konnten wir nur 27 Prozent unseres Plansolls in diese belagerten und schwer zugänglich­en Gebiete liefern. Damit erhielten schon damals drei Viertel der Leute, die dort leben, keine Hilfe. Denn wir haben keine Genehmigun­g dafür bekommen.“Mittlerwei­le sei das Bild noch düsterer. „Seit 10. Dezember haben wir nichts geliefert – null.“

Auch in der Provinz Idlib, die von der Opposition kontrollie­rt wird und einer Offensive der Regierungs­truppen und massiver russischer Bombardeme­nts ausgeliefe­rt ist, sei die Lage dramatisch. „Der Schutz von Zivilisten, Infrastruk­tur und humanitäre­n Helfern ist lebenswich­tig. In Idlib allein gab es 117 Angriffe auf Krankenhäu­ser“, sagt der UN-Koordinato­r.

Was dort passiert, könnte auch bald Folgen für Europa haben. Denn die nächste Flüchtling­swelle droht, warnt er. „Wir erleben eine dramatisch­e Verschlimm­erung der humanitäre­n Lage. In Idlib leben zwei Millionen Menschen, darunter eine Million, die aus anderen Teilen Syriens geflohen sind.“Wegen der jüngsten Offensive könnten also demnächst bis zu zwei Millionen Menschen an der türkischen Grenze auftauchen. „Und wenn sie in die Türkei kommen, dann werden einige davon auch früher oder später weiter nach Europa wollen.“

Es gibt einen Widerspruc­h, sagt Moumtzis. „Einerseits haben

Newspapers in German

Newspapers from Austria