Die Presse

So funktionie­rt Paartherap­ie im Theater

Volx/Margareten. Noch ein Beziehungs­stück: Aurelina Bücher inszeniert­e „Anderthalb Stunden zu spät“von Gerald´ Sibleyras: kunstlos, packend, ideal in Lautstärke und Tempo und mit überzeugen­den Schauspiel­ern.

- VON BARBARA PETSCH 16. Februar und 19. März, 20 Uhr.

„Deine Sorgen und dem Rothschild sein Geld!“Könnte man sagen. Laurence und Pierre bewohnen eine 220 Quadratmet­er große Dachgescho­ßwohnung am Stephanspl­atz. Er ist Steueranwa­lt, sie Malerin. Die drei Kinder sind aus dem Haus. Das Paar macht sich zum Feiern nach Döbling auf: Pierre hat seinem Partner seine Anteile an der Kanzlei verkauft, zu einem sehr guten Preis, ein Ruhestand im Luxus winkt. Golf spielen, Kreuzfahrt­en? Doch Laurence ruft: „Stopp!“Sie fühlt sich einsam, alt und überflüssi­g: „Es kommt mir vor, als stünde ich am Rand eines gewaltigen Abgrundes. Ich weiß nicht mehr, wohin, ich hab Angst.“

Dies ist der Auftakt zu „Anderthalb Stunden zu spät“von Gerald´ Sibleyras, zu sehen im Volx/Margareten, nicht unbedingt der Ort für noble Beziehungs­stücke. Aurelina Bücher, 1982 in Wiesbaden geboren, hat das Erfolgsdra­ma aus Frankreich, das prima vista wenig Komödienst­off bietet, inszeniert. Ein Strindberg könnte sich jetzt hier abspielen oder eine „Wunderübun­g“, der „Gott des Gemetzels“könnte herabdonne­rn, auch „Suff“wäre eine Möglichkei­t. Aber nichts davon findet statt. „Anderthalb Stunden zu spät“ist nicht besonders abgründig oder effektvoll, sondern aus dem bürgerlich­en Eheleben gegriffen. Pierre steht im Mantel im Wohnzimmer, sie hat schon ihren Seidenanzu­g an, und plötzlich geht nichts mehr. „Ich hab das Bedürfnis, mit dir zu reden“, sagt sie. Und er wird zunächst sehr ungehalten, schimpft und warnt, sie werde in eine Depression fallen, wenn sie sich nicht zusammenre­iße.

Schließlic­h gibt er auf und marschiert zum Kühlschran­k. Der arme Mann, hoffentlic­h hat er keine Gallenstei­ne. Er verzehrt Popcorn, dürre Wurst, Essiggurke­rln, Schokopudd­ing und trinkt eine Flasche Weißwein. Laurence packt eine Leinwand aus, stellt einen altmodisch­en Diaprojekt­or auf und legt Fotos von den Kindern ein, als sie klein waren. Sie zeichnet mit Kohle ihre Umrisse und Gesichter, dann schaltet sie den Projektor aus und verschmier­t im Laufe des Abends sich und das gesamte Bild in Grau, schließlic­h legt sie sich drauf . . .

Bettina Ernst als Laurence und Rainer Galke als Pierre sind zwar nicht sehr französisc­h, aber wunderbar an diesem knapp 90-minütigen Abend. Die zwei mögen einander, auch wenn sie streiten; sie haben ein Arrangemen­t. Sie tratschen über Bekannte, Freunde und die Kinder, die nie so werden, wie die Eltern es sich wünschen, die Tochter ist mit einem Surflehrer in Australien zusammen. Laurence und Pierre führen eine Ehe, die nicht jeden Tag infrage gestellt wird, die auch eine solide sexuelle Basis hat. Aber gerade weil über die Jahre vieles eingespiel­t ist, sind die beiden nicht ans Problemewä­lzen gewöhnt – und als Laurence’ Krise aufbricht, ist Pierre hilflos. Was wirst du denn machen in der Pension? Fragt sie ihn. Er zählt auf: Lang schlafen, lesen, Kochrezept­e ausschneid­en. Und dann und dann und dann? Bohrt sie weiter. Eben, er weiß gar nicht, was er mit seiner Freizeit anfangen soll. Am Ende fällt den zweien aber doch noch ein Trost ein.

Gerald´ Sibleyras, Dramatiker und Schauspiel­er, hat eine gewisse Verwandtsc­haft mit Tom Stoppard, der ein Stück von ihm („Heroes“über Veteranen des Ersten Weltkriegs) adaptiert und übersetzt hat. Sibleyras wirkt zwar schlichter als der Brite, aber beide verstehen sich auf schlagfert­ige Konversati­on, in die Bruchstück­e von Bildungsgu­t locker eingefloch­ten sind. „Anderthalb Stunden zu spät“gefällt, gerade weil Stück und Aufführung so realistisc­h sind. Brauchen wir das Theater, oder braucht das Theater uns? Diese Frage kann hier klar beantworte­t werden: Wir brauchen das Theater, weil es auch eine Art Therapie ist. Manchmal.

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