Anorexia hysterica Die Skeptikerin und die Heilige
Fastenmädchen, so die Legende, würden sich höchstens von einer Hostie am Tag ernähren. In Emma Donoghues Roman „Das Wunder“nimmt sich eine resolute Krankenschwester vor, den Schwindel aufzudecken. Fesselnd – vor allem wegen Donoghues Verweigerung von alle
In ihrem Bestseller „Raum“(2010) hat Emma Donoghue in Anlehnung an das tragische Schicksal von Elisabeth Fritzl von einer Frau erzählt, die zusammen mit ihrem fünfjährigen Sohn über Jahre hinweg in einem nur neun Quadratmeter großen Schuppen von ihrem Entführer festgehalten und regelmäßig vergewaltigt wird. Die Verfilmung des Romans durch Lenny Abrahamson (2015), für die Donoghue selbst das Drehbuch geschrieben hat, wurde 2016 für vier Oscars nominiert und schließlich für die hervorragende Leistung der Hauptdarstellerin (Brie Larson) prämiert.
Der Plot für „Das Wunder“speist sich nun aus dem Phänomen der sogenannten Fastenmädchen. Das sind Mädchen, die vom 16. bis ins 20. Jahrhundert hinauf durch Hungern berühmt geworden sind. Die Legende, sie würden sich von höchstens einer Hostie am Tag ernähren, verlieh ihnen in ideologisch-religiös gefärbten Kreisen oft den Status von Heiligen. Das eine oder andere Fastenmädchen hat für den oft nur kurz andauernden Ruhm mit seinem Leben bezahlt. Der englische Arzt William Gull (1816–1890) bezeichnete die Essstörung, die heute als Anorexia nervosa bekannt ist, als Erster als Anorexia hysterica und veröffentlichte im Jahr 1873 drei Fallbeispiele dazu. Er vermutete damals schon, dass sie auf eine schwerwiegende Traumatisierung zurückzuführen sei.
Die Themen, durch die sich die Autorin zu ihren Romanen inspirieren lässt, sind mit einem Wort keine leichte Kost. Man liest sie dennoch gern. Das liegt unter anderem an der konsequent eingehaltenen Verweigerung von allem Skandalösen, Reißerischen als Stilmittel. Sie fesselt, weil sie die Tragik des Geschehens erträglicher macht und zugleich gerade ob der unaufdringlichen Darbietungsweise noch potenziert. „Raum“wird aus der naiven Perspektive des Kindes erzählt, das die enge Welt, in der es gefangen ist, als die gegebene nimmt und das Beste daraus macht.
Im nun vorliegenden Roman, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts spielt, übernimmt Lib, eine resolute englische Krankenschwester, die Rolle der Erzählerin. Sie wird in ein kleines irisches Dorf gerufen, in dem ein solches Fastenmädchen wie ein leibhaftiges Wunder verehrt wird. Über einen Zeitraum von vier Monaten hat Anna, so heißt das Mädchen, angeblich keinen einzigen Bissen Nahrung mehr zu sich genommen. Mit dem Phänomen Hunger an sich sind die Iren nach den Kartoffelmissernten der Jahre 1845 bis 1852 ja bestens
Emma Donoghue
Das Wunder Roman. Aus dem Englischen von Thomas Mohr. 416 S., Hln., € 25,70 (Wunderraum Verlag, München) vertraut – etwa zwölf Prozent der irischen Bevölkerung sind damals aufgrund von Mangelernährung ums Leben gekommen, an die zwei Millionen sind in die USA ausgewandert –, dass man dem Hunger jedoch über einen so langen Zeitraum wie Anna unbeschadet trotzen kann, lässt selbst die Hungerkünstler nolens volens staunen.
Anna lebt, so behauptet sie zumindest, von nicht mehr als zwei Schluck Wasser pro Tag. Feste Nahrung verweigert sie konsequent. Sie benötige sie nicht mehr, da sie durch „himmlisches Manna“(2 Mos 16) ernährt würde. Massenhaft strömen Wundergläubige auf den Hof der Eltern des Fastenmädchens, um es zu bestaunen und sich von ihm segnen zu lassen – für eine kleine Spende, die die Eltern angeblich den Ärmsten der Armen zukommen lassen. Es gibt aber auch Zweifler an jenem „Wunder“. Ein eigens dafür zusammengesetztes Komitee, dem auch der Pfarrer des Orts und der ansässige Arzt angehören, beschließt, dem Mädchen zwei medizinisch versierte Frauen an die Seite zu stellen, die es über einen Zeitraum von zwei Wochen rund um die Uhr bewachen sollen. Die eine ist eine Nonne, die andere Lib, die alles andere als wundergläubig ist und sich vornimmt, den Schwindel – etwas anderes kommt für sie nicht infrage – so schnell wie möglich aufzudecken. Die Skeptikerin trifft auf die Heilige. Die Beziehung, die sich zwischen den beiden etabliert, ist anfangs naturgemäß belastet. Man begegnet einander mit Misstrauen.
Zu ihrem Erstaunen findet Lib die „kleine Heilige“jedoch in einem recht guten Zustand vor. Unterernährt ist sie allemal, vom nahen Hungertod, der sich nach einem so langen Zeitraum ohne Nahrungsaufnahme jedoch längst hätte einstellen müssen, ist sie aber weit entfernt. Lib bewacht das Mädchen mit Argusaugen. Besuche von Anbetern oder auch von neugierigen Journalisten untersagt sie zum Ärgernis der Eltern. Jeden Zentimeter von Annas Zimmers sucht sie nach möglichen Verstecken ab, in denen sich etwas zu essen befinden könnte. Ohne Erfolg. Sollte es sich tatsächlich um ein Wunder handeln? Die Skeptikerin wird immer skeptischer. Nun zweifelt sie jedoch an sich selbst. Gibt es doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sie bisher für möglich gehalten hat?
Akribisch führt sie Buch über Annas körperliche Verfassung: Körpertemperatur, Pulsschläge in der Minute, Verhalten im Schlaf . . . Alles im Bereich des Normalen. Die Tage vergehen. Zwischen den beiden stellt sich eine Art Vertrautheit ein, ja man könnte sagen, dass sie zu etwas wie Freundinnen werden. In den vielen Gesprächen, die sie auch während ausgedehnter Spaziergänge ums Haus führen, stellt Lib fest, dass Anna ein äußerst kluges Kind ist. Sie erliegt ihrem Charme und freundet sich beinahe selbst schon mit der Idee an, Zeuge eines tatsächlichen Wunders zu sein.
Bis es ihr wie Schuppen von den Augen fällt: Anna ist ein entzückendes, aber sterbendes Kind – und kein wie auch immer geartetes Wunder. Irgendjemand muss sie vor ihrem Eintreffen zumindest notdürftig mit Nahrung versorgt haben, mit Nahrung, in der das Mädchen das „himmlische Manna“zu erkennen geglaubt hat. Lib dringt in Anna ein, findet heraus, dass sie ein düsteres Geheimnis hütet, das mit dem Tod ihres Bruders vor nicht weniger als neun Monaten in Zusammenhang steht. Es wird ihr schlagartig bewusst, dass das Mädchen an einer tiefgreifenden psychischen Traumatisierung laboriert, für die die autoaggressive Nahrungsverweigerung lediglich ein Symptom ist. Und nun beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.
Lib wendet sich an das Komitee und drängt es dazu, die Wache vor Ablauf der Frist abzubrechen und das Kind mit Nahrung zu versorgen, gegebenenfalls auch gegen seinen Willen. Zu ihrem Entsetzen wird sie mit ihrem Anliegen abgewiesen. Man schenkt ihr keinen Glauben, man will ihr keinen Glauben schenken. Man hat sich längst dafür entschieden, die „gesetzeswidrige Tötung“des Mädchens zu einer „Apotheose einer Dorfheiligen“zu stilisieren. Das Kollektiv des Ortes nimmt das Opfer des Kindes an, um – jeder für sich – Profit daraus zu schlagen. Tun sie das in vollem Bewusstsein? Donoghue resümiert: „Keiner ist so blind wie der, der nicht sehen will.“