Fünf Personen suchen eine Handlung
Gattungsmix: Silvia Bovenschens letzter Roman glänzt mit der Individualität der Figuren und philosophischen Anspielungen.
Knappe Aufzeichnungen schildern das autistische Nebeneinanderher sowie das skurrile Aufeinandertreffen fünf unterschiedlicher und sehr besonderer Wesen: Während Alma, bereits alt und müde, nichts anderes tut, als zu schreiben und zu schimpfen, sorgt ihre Nichte Agnes für sie und den kleinen Max, der auf Entdeckungsreisen die Dachböden ihres Hauses unsicher macht. Und dann gibt es da noch Mr. Odino, der Agnes’ Herz gewinnen will und letzten Endes unfreiwillig das von Max für sich erobert, sowie den alten Herrn Bärentrost, der schließlich sein Leben lassen muss.
Die Rahmenhandlung von Silvia Bovenschens Roman „Lug & Trug & Rat & Streben“ist also leicht erzählt. Sie wird von Agnes getragen, die im ersten und letzten Kapitel des Textes die Hauptrolle spielt, während es in den Binnenpassagen um die Beziehung zwischen Mr. Odino, Max und Alma geht, die gemeinsam in das mystische Dorf Mispelheim aufbrechen, einer skurrilen griechischen Tragödie über Monster beiwohnen und schließlich sogar einen Eremiten treffen, um dann zu Agnes zurückzukehren. Doch nichts bleibt, wie es gewesen ist, denn Bärentrost ist tot – und Agnes beginnt, gemeinsam mit Mr. Odino, Max, Alma und einem ihr zugelaufenen Hund, einen neuen Lebensabschnitt.
Der sprachlich eher knapp gehaltene Roman besticht also, wie man auf den ersten Blick sehen kann, nicht durch seine Hand-
Lug & Trug & Rat & Streben Roman. 208 S., geb., € 20,60 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main) lung, sondern vielmehr durch die besondere Individualität der Figuren sowie durch zahlreiche philosophische Anspielungen und Lebensweisheiten. Kein Wunder – denn wenn vier Generationen aufeinandertreffen, sind Leben und Sterben, Vergänglichkeit und Dauer und die damit einhergehenden Erkenntnisse immer Teil des Systems.
„Gewiss, ich wollte gewinnen, jedoch im Gewinnen lag das Glück nicht“, gibt beispielsweise der Greis Bärentrost in einer seiner Notizen zu; „Zeit ist nicht Geld. Aber sie ist kostbar!“, weiß die erfahrene Alma Bescheid. Doch auch Mr. Odino, jünger an Jahren, bringt bereits einen Erfahrungsschatz mit: „Er wollte nichts mehr“, heißt es da in einem der Kapitel aus der Perspektive des Philosophen, und: „Darin lag eine Freiheit, und darin lag eine Armut.“So beson-
Qders die Figuren auch gestaltet sind, kann man ihnen allen doch eine sehr elitäre Haltung „unterstellen“, denn es handelt sich bei den Akteuren ausschließlich um Intellektuelle. Demnach weist der Text eine Fülle von Anspielungen auf: Da wird über das „Lob der Torheit“philosophiert, da ergreifen Phlegon und Hesiod das Wort; den Zweiten Weltkrieg und die Haltung der alten Römer bringt Silvia Bovenschen genauso zur Sprache wie moderne Netzkulturen und Cybergestalten. Lebendig hält diese eher „kopflastige“Welt jedoch der Humor, der sich immer wieder mit surrealen Settings wie dem mystischen Muspelheim, der Höhle eines Eremiten und einer abgelegenen Dorfkneipe paart und mit fast traumähnlichen Situationen einhergeht.
Die Autorin schafft es außerdem, sich formal der unterschiedlichsten Textgattungen zu bedienen: Hier finden sich listenartige Aufzählungen genauso wie Zitate aus dem Notizbuch des alten Herrn Bärentrost. Kursiv gesetzte, archetypische Passagen, die mit märchenhaften Elementen spielen – „Ich möchte ein Stern sein“, heißt es beispielsweise in einem Dialog zwischen einem Kind und einer alten Frau –, wechseln einander mit lapidar formulierten, nicht unter Anführungsstriche gesetzten direkten Reden ab. Auch ein kurzes Gedicht sowie comicartige Ausrufe – beispielsweise „Puff!“und „Basta!“– werden in den Text hineingewoben, sind Teil seines Facettenreichtums.
Für alle, die Freude an literarischer Fülle haben, ist dieser Roman der vorigen Herbst an Multipler Sklerose verstorbenen Autorin also eine wunderbare Spielwiese, in der es Welten in Welten zu entdecken gibt.