OTTO BRUSATTI
Betätscheln, bespringen, vergewaltigen: Die Opernbühne taugt kaum einmal zur moralischen Anstalt. Libretti in Zeiten von MeToo: ein Rundgang durchs Repertoire.
Geboren 1948 in Zell am See. Dr. phil. Sendungsgestalter, Moderator im ORFHörfunk, Autor, Regisseur, Ausstellungsmacher. 2017 im Mitteldeutschen Verlag: „34 – der einfache Schrecken oder die Welt heute. Ein schmaler Roman zwischen Dresden und Wien“.
Die Frau Carmen verführt einen Tollpatsch, der ist von Profession so etwas wie Militärpolizist und zudem bisher glücklich verlobt. Die Frau Kundry bringt überhaupt durch geile Lustigkeit die christliche Heilsgeschichte fast zum Kippen. Die Frau vom Herrn Grafen Almaviva, wiewohl von diesem gelegentlich etwas schäbig behandelt, oder die Frau Feldmarschallin von Werdenberg tändeln gern, strafrechtlich höchst grenzwertig, mit jungen Buben. Der adelige Verwandte von Letzterer vergewaltigt gern Minderjährige, er rühmt sich, zum Zwecke der Eigenaufgeilung selbst vor einem Ohnmächtigschlagen mancher abhängiger Kindmädchen nicht zurückzuschrecken. Andererseits: Vorstadtweiber und Boulevardnachwuchs lassen sich gern öffentlich zwicken.
Na gut. Theater halt. Und doch. Gilt nicht immer noch der Sager von der Bühne als moralischer Anstalt? Sogar im Fasching? Also. Ein weiterer, auswahlmäßiger Blick, diesmal hinein in die aktuelle Saison.
Man gibt zum Beispiel in der Staatsoper neben Rossini-et-cetera-Massenware Händels „Ariodante“, ein recht wüstes Stück, wo die Leute zwischengeschlechtlich miteinander umgehen wie in aktuellen Bürgerkriegen im Endstadium und wo, so belehrt uns das Programm des Hauses, die Frauen „amourös gefügig gemacht werden“. Die Volksoper prunkt mit der „Nacht in Venedig“und zugleich mit einem Werbetext, den kruden Operetteninhalt betreffend, wie dergestalt formuliert er sonst in keinem Correctness-Blatt mehr stehen dürfte. Burgtheater und Kleinbühnen reüssieren (zumindest im Internet) ihrerseits mit Stückbeschreibungen und opulent präsentierten Verhaltensanleitungen zwischen den Geschlechtern, die, im Alltag ausprobiert, Karrieren und private Sozialgefüge vernichten würden. Und von den notwendigen Begrapschungen im Zuge von Ballett-Erotika ist gar nicht mehr zu reden.
Halt. Kein Spießertum jetzt hervorgeholt und baff stehend vor der sich frei äußernden Kunst! Allein: Darf man heutzutage als Mann sich überhaupt noch diese gefährdenden und zum Nachmachen anregenden Sachen anschauen?
Eine kurze Flucht in die Ästhetik – und in ihre Vorbildwirkung. Kunst und vor allem ihr derart und vielleicht sogar mit Musikmitteln Dargestelltes hat ausschließlich jener Trinität verpflichtet zu sein: typisierend, stilisierend, idealisierend (und nicht auch noch, wie später so manche Sarkasten meinten: persiflierend die Wirklichkeit). Die Menschheit hat sich also aufgrund einer derart formulierten Zusammenschau gut zu orientieren. Auch im Alltag. Selbst im Alltag. Selbst im Zusammenleben der Geschlechter, bis hin zur Gestik, zum versucht Haptischen und mehr noch.
Eine böse andere Theorie und eine noch bösere Praxis stimmen zwar (un)heimlich im Macho- und MeToo-Land überein, als Grundlage einer allgemeinen Gesetzlichkeit oder als Imperativ der praktischen Vernunft aus der Phänomenologie des Geistes sowie der Körper und seiner Süchte haben sie aber nicht und nie zu gelten. Obwohl uns Musik und Theater- oder Film- oder Roman-Sachen das alles dauernd „böse“vorführen und anbieten. (Von den sehr vielen, den allermeisten Leuten nicht einmal geläufigen, auch bösen Dreckigkeiten, welche in der absoluten und unsprachlich dargebotenen Musik oder in so vieler Lyrik aller Jahrhunderte als Zweit- und Drittebenen quasi offen angeboten werden, ist lieber nicht zu reden. Belauschen wir bloß, for example, die Coitus- oder Begrapsch-Schilderungen in der Mondscheinsonate, der Lyrischen Suite Bergs oder der Sechsten Duineser Elegie Rilkes.)
Na gut. Aber warum gab es dazu bisher in diesem Text so viel holprig Lexikalisches? Weil eben nur die kleineren (ein gegenseitiges Antatschen oder das feine Verführungen In-Aussicht-Stellen) und dann sogar die größeren Sünden (bis hin halt zum Umbringen) im (Musik)Theater wirklich ziehen. So banal das nun klingt: Es geht dort vor allem um Dinge, wie man sie gern belustigt oder verschämt in den sowieso entweder leicht ironischen oder voll tendenziösen Gerichtssaalspalten der einschlägigen Tageszeitungen beschmökert. Denn Theater und vor allem Musiktheater (vom Filmgeschäft mögen wir lieber erst gar nicht plaudern) leben von Sachen, die brave Zeitungen oder noch bravere Schauspielerinnenvereinigungen durchwegs zu Recht verdammen.
Allein, gibt es sie überhaupt? Ziemlich asexuelle und nicht anmachende Opern zum Beispiel? Den Pfitzner-„Palestrina“vielleicht. Auch das Hindemith-Theater, einiges vom lieben Rossini oder der täppische „Mann von La Mancha“(wie sich ja die meisten Musicals durch eine Ferne zum Angriffigen auszeichnen). Auch – komisch irgendwie im Falle des Komponisten/Librettisten – beim Krenek-„Karl V.“. Und die Slawen sind meist sowieso mit der eigenen Geschichtsaufarbeitung beschäftigt. Aber schon – for example wieder – im so keuschen Rettungs-„Fidelio“geht in halbwegs passablen Inszenierungen der Jaquino der Marzelline bereits in der ersten Szene an die Wäsche. Während das Mädchen ihrerseits, alleingelassen in ihren schwülstigen Träumen, vom gemeinsamen Schlafen mit und Betapschtwerden von dem so kuscheligweich wirkenden neuen Gefängnisgehilfen herumjubelt.
Auch der sonst so anständige Pelleas´ wühlt unerlaubt und ungefragt spätestens ab dem dritten Akt im Haar der Melisande.´ Und von den sich verklemmt-schwül-fordernden Libretti fürs Scheinbar-Keusche a` la „Dialogues des Carmelites“´ – ein toller und zugleich schrecklicher Plot – bis Britten, Wolf-Ferrari, Schönbergs „Von heute auf morgen“oder zum flotten Wunsch-Dreier im Strauss-„Capriccio“wollen wir lieber schweigen.
Ganz beklemmend aber jetzt. „Der Ring des Nibelungen“, no na. Gut zwei Dutzend an wüsten MeToo-Angelegenheiten werden vorgeführt, in süß-brutale Leitmotive gewickelt und auf offener Bühne zelebriert. In feiner Auswahl: Alberich versucht gleich in den ersten Minuten der 17-StundenTetralogie eine Dreifach-Betätschelung und dann wohl -Bespringung von Rheintöchtern. Er wird daraufhin derartig quasi am Schmäh gehalten, dass er einen Raub und ein Liebesverbot inszeniert, die schließlich den Tod zumindest der Menschenwelt zur Folge haben. Von den Zuständen in Nibelheim oder in der Wohnung des anderen Zwerges reden wir lieber erst gar nicht. In der „Walküre“verführt eine sonst arme, doch reizende junge Frau ihren Zwillingsbruder, nachdem sie ihren Mann mit einem Trunk betäubt hat. Später wird sich – wieder so eine Familienaufstellung – ein Göttervater zweimal ziemlich körperlich seiner Lieblingstochter nähern.
Im Falle „Siegfried“sei nur auf die letzte gut Dreiviertelstunde verwiesen, wo ein junger Depp, der angeblich noch nie eine Frau enger erlebt hat, einer Schlafenden die Kleider zerreißt und sie dann, gehüllt in chromatische Klangmassen, zu vergewaltigen sucht, so lange, bis die eben Aufgeweckte fa- talistisch alles zulässt. Und in der „Götterdämmerung“verführt (auch wieder mittels eines Trankes – das probate Wagner-Mittel) eine sonst als leicht bescheuert skizzierte Königstochter den Helden auf offener Szene. Na gut. (Und wer verführt, nur scheinbar mit Gift, den „Tristan“-Helden, der sich, betroffen, ursprünglich der Frau nicht einmal zu nähern traut? Wer bietet sich – der Preis sind die Jungfernschaft und das Land – keine zehn Minuten nach dessen Herbeikunft mittels einer Schwanen-Post einem Alien aus Monsalvat an?
Wir gehen in die aktuelle, dreiaktige „Lulu“von Berg/Wedekind und haben zuvor brav die aktuelle, gendergerechte Sekundärliteratur gelesen. Geht man davon aus, dass es sich dabei eigentlich um ein realistisches, wenn nicht gar naturalistisches Theater handeln soll, so wird man eines Besseren belehrt. Die Frau Lulu ist vor allem Opfer, auch wenn sie zumeist sogar direkt vor allen erwartungsvollen Typen die eben aktuellen betrügt. Und wie! So sexaggressiv wie sich das kein Hollywood je mehr traute.
Genug. Wir ziehen uns jetzt doch lieber (nein, nicht „Lolita“) eine der besten Operettenverfilmungen rein. „Die Fledermaus“ im Staraufwand. Alle drei bis vier Minuten wird irgendeine Frau in den Hintern gezwickt oder setzt sich auf Männerknie, streichelnd. Vereinbart, gefragt ob man denn dürfe oder gar vertraglich vorher festgelegt? Nix, von keiner Seite, im Gegenteil. Und alles jubelt. Das Theater als moralische Anstalt mit unmoralischen Mitteln? Sodann im „Opernball“, in den fetzigen Offenbachiaden, im mittleren Strauss (alles aktuell auf Bühnen), es geht gelegentlich zu, dass umgehend, wäre – theoretisch – das Vorgeführte nicht eine liebe und bejubelte Chimäre (?), Massenshitstorms durch die diversen Internets brausen müssten.
Seltsam. Aber so darf es dann schon wieder nicht sein. Offenbar. Aktuelle Inszenierungen verbessern (?) sicherheitshalber die heiklen, manchmal/oft sogar letalen Frau-Mann-Situationen. (Theater als moralische Anstalt . . .) Auf den Don Juan machen die Frauen, die sich ihm eben noch mehr oder weniger angeboten haben, Jagd. Die ungern treue Carmen bringt den Jose´ um, die Nora ihren Gatten. Selbst Shakespeare und Strindberg auf Pur sind mega-out.
Wir blättern in wissenschaftlich-hochnotpeinlichen, lieblichen Darstellungen der Musiktheatergeschichte. Und bleiben sicherheitshalber nicht bei fast jeder SchrekerOper hängen oder im Koketten der bösen, absichtlich das Gegenüber verachtenden Tändelei von Monteverdi bis Verdi, schwelgen dafür verboten in „Cos`ı fan tutte“oder wünschen uns heimlich, der Romantik-Erfinder von Weber plus etwa Lortzing hätten sich auch über saftig Romantisches getraut. Vom einem an den Opern scheiternden Schubert (er, der etwa in den MayerhoferLiedern verbotenen Eros dergestalt vorgeführt hat wie kaum jemand sonst) reden wir nicht, von Brahms und Bruckner sicherheitshalber auch nicht; wir suchen lieber beim Janacek´ nach zwischengeschlechtlicher Klarheit (und finden solche brav in manchen seiner Opern vorgesetzt – und bekommen in den Streichquartetten eine Frauen-Anmache hingepinselt, die es in sich hat).
Dann. Man gibt „Turandot“. Puccini, der Liebende, lässt eine Assoluta (so übermächtig dem anderen Geschlecht gegenüber wie heute höchstens Studiobosse oder Fernsehspielregisseure) Kahlschlag machen im Kreise von heiratswilligen jungen Männern im sowieso schmalen eigenen Gesellschaftsbereich. Die Armen, sie wissen keine drei Antworten (übrigens, die wären „Hoffnung“, „Blut“und die eigene Person). Wir erleben zudem ein paar Stunden lang physische & psychische Gewalt – heute ganz richtige Hauptargumente, hinter Hashtags. Tja, wilde Gschichten das alles. Dann. Herrliche Bühnenkleinkunst. Zur Erinnerung: Spontanversemachen. Wahrscheinlich ist es Karl Farkas gewesen. „Pflückt ein Mädel Ribisel, zwickt man sie ins Knie bissel.“Täte das heutzutage einer (live!), einer aus der Medienbranche oder bloß ein höherer Angestellter oder gar ein besoffener Politiker, seine Karriere wäre aber auch schon so was von im Eimer.
Selbst im so keuschen „Fidelio“geht bereits in der ersten Szene und dann schön regelmäßig der Jaquino seiner Marzelline an die Wäsche.