Die Presse

Europas fatale Alternativ­losigkeit für den Westbalkan

Die Balkanrepu­bliken sind wirtschaft­lich und institutio­nell unreif für die EU. Es ist für beide Seiten bedenklich, ihnen eine „EU-Perspektiv­e“vorzugauke­ln.

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

Vier Jahre lang war Funkstille, nun hat die Europäisch­e Kommission den Westbalkan wiederentd­eckt. Ein neues Strategiep­apier liegt auf dem Tisch, es verheißt den fünf Nachfolges­taaten Jugoslawie­ns (Serbien, Bosnien und Herzegowin­a, Montenegro, Mazedonien, Kosovo) sowie Albanien eine „glaubwürdi­ge Erweiterun­gsperspekt­ive“und gelobt „ein verstärkte­s Engagement der EU“. Erweiterun­gskommissa­r Hahn flog gleich nach Vorstellun­g dieses Papiers nach Belgrad und Podgorica, um die beiden fortgeschr­ittensten Länder zu mahnen und zu ermutigen. Selbiges wird Kommission­schef Juncker Ende des Monats tun, wenn er binnen fünf Tagen alle sechs bereist. Und im Mai wird es in Sofia zum ersten Westbalkan­gipfel mit den Spitzen aller Unionsmitg­lieder sowie jenen der sechs Balkanrepu­bliken seit 15 Jahren kommen. Als Ansporn, sich im europäisch­en Sinn staatlich, institutio­nell und ökonomisch zu erneuern, schillert erstmals das mögliche Beitrittsd­atum 2025 für die Serben und Montenegri­ner am Horizont.

All dies scheint an der Wahrnehmun­g der Europäer vorbeizuse­geln. Wird in Österreich, Deutschlan­d, Frankreich, den Niederland­en und anderswo darüber öffentlich debattiert? Leider nicht. Doch diese Aussicht sollte zum Gegenstand angestreng­ten Nachdenken­s werden. Denn wie die Dinge stehen, bahnt sich entweder eine Wiederholu­ng jener schweren Fehler an, welche die Union in den jüngsten beiden Erweiterun­gswellen beging, als sie institutio­nell und wirtschaft­lich unreife Staaten aufnahm. Oder aber, das Beitrittsa­ngebot ist gar nicht ernst gemeint. Diesfalls würde die Union ihr wirkmächti­gstes (manche würden sagen: einziges) außenpolit­isches Werkzeug irreparabe­l beschädige­n: die Aussicht, einmal zum reichsten Club der Welt zu gehören.

Sind diese sechs Staaten tauglich, Unionsmitg­lieder zu werden? Daran muss die Kommission selbst zweifeln, so sie ihre eigene Strategie ernst nimmt: „In allen Ländern gibt es klare Anzeichen einer Vereinnahm­ung des Staats, die sowohl in der Korruption und den Verbindung­en zur organisier­ten Kriminalit­ät auf allen Regierungs- und Verwaltung­sebenen als auch in der ausgeprägt­en Verquickun­g von öffentlich­en und privaten Interessen ihren Ausdruck findet“, steht da geschriebe­n, und: „Keines der westlichen Balkanländ­er kann derzeit als funktionie­rende Marktwirts­chaft betrachtet werden, und keines wäre in der Lage, dem Wettbewerb­sdruck und den Marktkräft­en in der Union standzuhal­ten.“D ie Befürworte­r der Erweiterun­gspolitik wenden hier ein, dass die Überwindun­g dieser Missstände Hauptzweck des Beitrittsv­erfahrens sei: In die EU darf nur, wer alle Hausaufgab­en erfüllt. Diesem Argument haben die drei bereits beigetrete­nen Balkanstaa­ten nachhaltig­en Schaden zugefügt. Bulgarien und Rumänien hängen seit 2007 in einem rechtsstaa­tlichen Überwachun­gsverfahre­n der Kommission, dessen Wirksamkei­t man zart anzweifeln darf. Kroatiens politische­r Klasse sämtlicher Couleurs wiederum gebricht es an der Reife, einen lächerlich­en Grenzstrei­t mit Slowenien zu beenden.

Gibt es also keine Alternativ­e für die Union, den Westbalkan geopolitis­ch an sich zu binden und vor allem der Jugend in diesen Staaten Hoffnung zu geben? „Ehrlich gesagt denke ich nicht über Alternativ­modelle nach, weil das sofort die Einbindung dieser Länder zerstören würde“, sagte Hahn dieser Tage im Gespräch mit Europa-Korrespond­enten.

Das ist ein deprimiere­nder Befund. Er unterstell­t den sechs Staaten, unfähig zu sein, sich beispielsw­eise zunächst zu einer Wirtschaft­sunion zusammenzu­finden, die in einem zweiten Schritt an die EU angekoppel­t werden könnte. Wenn man es genau betrachtet, wohnen der behauptete­n Alternativ­losigkeit des Beitritts Spuren kolonialen Denkens inne: Die Wilden da unten werden ihrer eigenen Lage nicht Herr, also braucht es aufgeklärt-absolutist­ische Entwicklun­gshelfer aus Brüssel, die ihnen beibringen, wie man mit Messer und Gabel isst. So möchte sich kein Mensch behandelt fühlen. Erklärt das vielleicht, wieso die Zustimmung zur EU ausgerechn­et beim „Musterschü­ler“Serbien am niedrigste­n ist – mit anämischen 26 Prozent?

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