Warum über höhere Strafen zu diskutieren ist
Reform der Reform. Obwohl das Strafgesetzbuch erst vor zwei Jahren reformiert worden ist, tut die Regierung gut daran, die Änderungen zu evaluieren und das Strafrecht nötigenfalls nachzuschärfen. Auch wenn das manche nicht wollen.
Strafrecht und seine Anwendung in konkreten Fällen stehen im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Vielfach gibt es ein Unbehagen bezüglich eines immer noch bestehenden Missverhältnisses zwischen dem Vermögensstrafrecht und den Straftaten gegen Leib und Leben (unter Einschluss des Sexualstrafrechts). Soll sich eine Regierung, die unter den Vorzeichen einer Modernisierung des Rechts antritt, auch dieses Themas annehmen? Die Antwort ist eine bejahende: Ja, das soll sie, und sie soll sich dieses Themas mit Augenmaß und selbstverständlich – immerhin geht es im Strafverfahren um bloße Verdachtsfälle – unter voller Wahrung der Verteidigungsrechte der Beschuldigten annehmen. Nichts anderes steht im Regierungsprogramm.
Warum – nach der erst kürzlich erfolgten Novelle „StGB 2015“– schon wieder derartige Reformüberlegungen? Aus zwei Gründen. Erstens sind die Änderungen der Reform 2015 als solche zu evaluieren und im Lichte einer solchen Evaluierung gegebenenfalls nachzubessern: Eine solche Evaluierung kann – und soll – auch eine empirische sein; sie kann aber jedenfalls parallel auch „analytisch“erfolgen, also durch eine Überprüfung, ob das Normenmaterial „nach seiner Papierform“(und den daraus zu erwartenden Effekten) die angestrebten Ziele in konsistenter Weise zu erreichen vermag. Eine solche Evaluierung kann durchaus da und dort zu einer (partiellen) Rücknahme des Strafrechts führen; gegebenenfalls – aber eben nur gegebenenfalls – wird das Strafrecht als Folge einer solchen Evaluierung allerdings auch nachzuschärfen sein.
Zweitens aber, und das ist noch wesentlich bedeutsamer: Der Reformansatz des „StGB 2015“hat – in durchaus verengender Perspektive primär tatbestandsbezogen auf die einzelnen Tatbestände des StGB und deren Strafdrohungen geblickt und wesentliche andere Parameter – insbesondere das Zusammenspiel mit dem Strafzumessungsrecht im weiteren Sinn – weitgehend ausgeblendet.
Dabei geht es um die unterschiedliche Struktur der Qualifikationen bei Körperverletzungsdelikten einerseits und Vermögensdelikten andererseits, um die Anwendung der Zusammenrechnungsregel des § 29 StGB, um die Rechtsfolgen einer Tatwiederholung in Hinblick auf den Sanktionierungsrahmen und um strafrechtliche Konkurrenzfragen überhaupt, um den Rückfall und um die Struktur und den konkreten Zuschnitt der Strafzumessungsgründe. Letztlich besteht auch ein Zusammenhang zum Strafprozessrecht.
Die anstehende kriminalpolitische Reform kann und soll sich all dieser strafrechtlichen „Stellschrauben“bedienen. Die diesbezügli- chen Fragen sind durchaus vielschichtig und weit komplexer als eine verschiedentlich behauptete „lineare Parallelverschiebung“der bestehenden Strafdrohungen und Strafen in Richtung Strafverschärfung.
In der jüngsten Diskussion waren aber auch ganz grundsätzliche Vorbehalte gegenüber der (general-) präventiven Wirkungskraft des Strafrechts – und insbesondere der Höhe seiner Strafdrohungen – zu vernehmen. Diese Vorbehalte sind weit überzogen. Das Strafrecht mit seinem System von – auf Unterschiede in Unrecht und Schuld differenzierend Bezug nehmenden – unterschiedlich hohen Strafdrohungen ist etabliert und präventiv bewährt. Gäbe es die generalpräventive Wirksamkeit seiner Strafen nicht, müsste man das Strafrecht auf der Stelle einebnen oder über- haupt ganz abschaffen. Dafür gibt es aber keinen Anlass: Das Recht fungiert als ein Mittel menschlicher Verhaltenssteuerung, und das Strafrecht ist dafür – ungeachtet der Komplexität der zur Sozialsteuerung wirksamen Anreize – ein sogar besonders effektives Mittel.
Das Vorgesagte bedeutet umgekehrt nicht, dass ein Weg in eine „punitive Gesellschaft“mit höheren und immer höheren Strafdrohungen erstrebenswert wäre. Im Gegenteil: Das Strafrecht ist ein Übel, das die Rechtsgemeinschaft dem Delinquenten gezielt auferlegt; es trifft den (schuldigen) Täter, aber auch indirekt viele Unschuldige (Ehepartner, Kinder, Eltern) in dessen Umfeld. Dazu kommt, dass das scharfe Schwert des Strafrechts stumpf wird, wenn man es undifferenziert zu oft einsetzt. Nur, all diese grundsätzlichen Überlegungen ersparen es der Kriminalpolitik nicht, für bestimmte Sachverhalte auch eine – vielleicht für manche unangenehme – Diskussion über allfällige Erhöhungen von Strafdrohungen und Strafen zu führen.
Zuletzt noch ein Wort zur Behauptung, dass den Verbrechensopfern durch Straferhöhungen nicht geholfen sei. Die bisweilen behauptete Indifferenz der Opfer von Straftaten gegenüber den verhängten Sanktionen trifft in dieser Form nicht zu. Vor allem aber ist es (durchaus im Zusammenspiel mit anderen Formen rechtlicher Sanktionen) legitimes Ziel der Kriminalpolitik, durch eine Verbesserung des Rechtssystems und seiner präventiven Wirkungskraft dafür zu sorgen, dass es von vornherein weniger Verbrechensopfer gibt.