#MeToo und Zensur: Ein Bild als Gift?
MeToo und Zensur. Wer „sexistische“Bilder und Bücher ächtet, ähnelt einstigen Sittenwächtern. Die Zensoren „unmoralischer“Kunst haben etwas mit den Ästheten gemein: Beide glauben an eine maßlose, magische Wirkung der Kunst.
Wer „sexistische“Bilder und Bücher ächtet, ähnelt einstigen Sittenwächtern.
Tschaikowskys Leben taugt nicht als Gutenachtlektüre für Kinder. Zumindest nicht in den Augen der US-amerikanischen Mutter, die in einem Internetforum um Rat bat: „Wir begannen heute über Tschaikowsky ein Buch zu lesen, das ich aus der Bücherei ausgeborgt habe, und es erzählte von allem, was er getan hat, vom Trinken und Rauchen bis zum Umstand, dass er homosexuell war!!!“Sie frage sich, ob sie ihren Kindern überhaupt Biografien berühmter Künstler und Komponisten vorlesen solle . . .
Kann die Büste eines Autors ein Sicherheitsrisiko sein?, fragten sich auch Mitarbeiter der Universität Edinburgh. Weil weibliche Studentinnen sich „unbehaglich unter seinem Blick“fühlten, wurde dort die Büste des österreichisch-ungarischen Schriftstellers Arthur Koestler entfernt. Nicht etwa wegen Koestlers Leidenschaft für Parapsychologie, die manche unheimlich finden, sondern wegen privater Details: Eine Biografie wirft ihm ihm Vergewaltigungen vor.
Der Streit um Koestlers Büste ist nun 20 Jahre her und illustriert, wie wenig neu die
MeToo-Debatte mit all ihren Bilderstürmen und Zensurforderungen ist, außer in ihrem Ausmaß. Was hätte wohl der britische Autor Oscar Wilde, der Paradepoet des L’art pour l’art, dazu gesagt?
Oscar Wilde: Kunst liebt auch das Böse
Wilde hätte wohl gesagt: Weg mit der Büste. Und mit Tschaikowsky-Biografien. Aber nicht aus moralischen Gründen, sondern künstlerischen. Oscar Wilde, der als homosexueller Dandy alle möglichen Tabus übertrat, forderte, Kunstwerk und Künstler zu trennen, nur das Kunstwerk sollte gelten. Dieses aber sollte keinem Zweck unterworfen sein und keiner Moral. Das Böse wie das Gute sollten als Spielmasse dienen dürfen. Ja, die Kunst sei der Realität selbst übergeordnet: Nicht die Kunst ahme das Leben nach, sondern das Leben die Kunst.
In dieser Sicht können freilich, ins Extrem getrieben, sogar Terroranschläge als „perfekte Kunstwerke“erscheinen. Der französische Schriftsteller Richard Millet etwa bezeichnete Anders Breiviks Massenmord auf der Insel Utoya als menschlich monströs und furchtbar – doch künstlerisch bewunderte er gleichzeitig die „formale Perfektion“. Vor ihm fand schon der deutsche Komponist Karl-Heinz Stockhausen, die Anschläge auf das World Trade Center seien wie „Luzifers größtes Kunstwerk“– er fühlte sich dabei an die zerstörerische Luzifer-Figur in einem seiner Werke erinnert. Obwohl Stockhausen auch betonte, wie furchtbar er die Anschläge finde, wurde ihm allein der Umstand, dass er über die Anschläge eine ästhetische Äußerung wagte, schwer angelastet.
Man kennt den vermeintlichen Urtyp der ästhetischen Lust am Destruktiven: Kaiser Nero, der Rom in Brand steckt, auf dass sein Lied auf den Untergang des alten Troja besser werde: „Ich bin eins mit den Göttern, bin unsterblich, ich bin Nero, der Künstler, der mit Feuer die Träume seines Lebens zur Wirklichkeit weckt. Brenn du altes Roooo- oooom!“, singt Schauspieler Peter Ustinov als Nero im Film „Quo Vadis“. Dieser Nero, der in die Populärkultur einging, ist allerdings ein mythisches Geschöpf, entstanden im Kopf eines mit der L’art-pour-l’art-Bewegung vertrauten Schriftstellers – 1895 veröffentlichte der polnische Autor Henryk Sienkiewicz die Romanvorlage. Wenn hingegen reale Vertreter des L’art pour l’art Brandstifter waren, dann höchstens in der Kunst.
Den moralischen Autoritäten seiner Zeit erschien auch Giovanni Boccaccio, der Dich- ter des „Decamerone“, als destruktiv. Bis zum 18. Jahrhundert waren Künstler von Fürsten und Mäzenen abhängig, die Macht der Religion war groß, die Macht des Individuums klein. Gemessen an seiner Zeit war der Renaissancedichter Boccaccio also ein mutiger Anwalt künstlerischer Freiheit. In seinem Buch „Decamerone“siegt sexueller Genuss oft über christliche Moral. Gegen Kritiker, die „wie Platon fordern, die Dichter aus der Stadt zu werfen“, verteidigte Boccaccio den Eigenwert der „inventio“, der dichterischen Einbildungskraft, und der Schönheit des Ausdrucks: gegen den Anspruch auf direkte moralische Verwertbarkeit. Auch von ihm führt ein Weg zur Forderung „Die Kunst für die Kunst“des 19. Jahrhunderts; etwa zu Flauberts Ansicht, entscheidend sei nur die „innere Schönheit“eines Werks.
De Sade und Nietzsche: Viel Moral!
Boccaccio, Flaubert – sie waren keine demonstrativen Sittenrebellen wie Oscar Wilde. Sie waren auch keine Kulturrevolutionäre wie der 1814 verstorbene Marquis de Sade. Sade gilt mit seinen ausufernden pornografischen und sadistischen Schilderungen als Inbegriff des amoralischen, „gefährlichen“Künstlers. Dabei war gerade ihm keineswegs egal, wie die Menschen lebten, ganz im Gegenteil. Er forderte nur eine ganz neue Moral, eine totaler Freiheit und eines Lebens gemäß der eigenen Natur. Auch Friedrich Nietzsche wandte sich gegen jede moralisierende Kunst – und zwar im Namen einer höheren Moral: „Die Kunst ist das große Stimulans zum Leben: Wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als L’art pour l’art verstehn?“Die „tragische Kunst“habe keine Furcht vor dem „Furchtbaren und Fragwürdigen“, genau darin liege ihr Wert. Stefan George, noch ein Vertreter des L’art pour l’art: War ihm Moral etwa egal? Er gerierte sich im Gegenteil immer mehr als Prophet gegen eine angeblich flach und geistlos gewordene Welt.
Unsympathisch bis schrecklich mögen einem die Vertreter einer von moralischen Normen ihrer Zeit befreiten Kunst erscheinen. Mit ihrer eigenen Kunst haben sie aber viel zu den Freiheiten der Gegenwart beigetragen. Dass gerade im Namen dieser Freiheiten heute wieder moralisch „unpassende“Kunst entfernt wird, ist deswegen eine traurige Ironie der Geschichte. Dabei haben die Zensoren mit den Ästheten etwas Erstaunliches gemeinsam: Auch sie glauben offenbar an die maßlose, direkt magische Wirkung der Kunst. Sie glauben, dass ein Bild, ein Buch Menschen vergiften kann – so wie in Oscar Wildes berühmtestem Werk ein „unmoralisches“Buch den Helden Dorian Gray.