Die Presse

Die Meere schwellen rascher an, aber nicht immer und überall

Erwärmung. Eine neue, auf Satelliten­messungen gestützte Prognose, sieht eine Erhöhung der Meeresspie­gel bis 2100 um 65 Zentimeter kommen. Einen ähnlichen Größenordn­ung legte zuletzt der Uno-Klimabeira­t IPCC nahe. Diese Werte haben aber regional wenig Auss

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Anno 2010/2011 gingen Klimaforsc­hern die Augen über: Die Meeresspie­gel stiegen nicht – um erwartete 3,2 Millimeter pro Jahr –, sie sie sanken, 7 Millimeter. Wie konnte das sein angesichts der Erwärmung, die unabwendba­r die Meere steigen lässt, weil zum einen Gletscher schmelzen und zum anderen Wasser sich beim Erwärmen ausdehnt?

Schon das Messen der Meereshöhe ist eine hohe Kunst: Man braucht Referenzpu­nkte an Küsten. Aber nicht nur das Meer hebt und senkt sich, das Land tut es auch: In der Hudson Bay sinkt das Meer, weil sich die Küste um einen Zentimeter pro Jahr hebt, als Spätfolge der Eiszeit, deren Gletscher das Land zusammendr­ückten, nun entspannt es sich. Am Gelben Fluss hingegen steigt das Meer 25 cm im Jahr, weil das Land wegen Übernutzun­g von Grundwasse­r sinkt.

Messungen vom Land sind also mit Vorsicht zu genießen, deshalb halten seit 1993 Satelliten die Meere im Blick, „Topex-Poseidon“und „Jason“: Die können das Problem der Messgenaui­gkeit reduzieren, aber auch ihre Daten brauchen sorgsame Interpreta­tion: 1991 etwa verdüstert­e der Vulkan Pinatubo für zwei Jahre die Erde, damit kühlte er sie, das schlug sich in geringeren Anstiegen der Meere nieder.

„Das Klimasyste­m ist komplizier­t“

Umgekehrt brachte das Klimaphäno­men El Nin˜o 2010/2011 ungewöhnli­ch starke Regenfälle über Australien. Und dort gehen nur sechs Prozent der Niederschl­äge direkt ins Meer, viele Flüsse tragen ihre Frachten ins Landesinne­re und füllen riesige Wannen. Daher das temporäre Sinken der Meere zu dieser Zeit, John Fasullo (US National Center for Climatic Research) bemerkte es und sah darin „eine hübsche Illustrati­on dafür, wie komplizier­t unser Klimasyste­m ist“.

Und nicht nur das Klima spielt mit bei den Meeresspie­geln: Die Hälfte ihres Anstiegs rechnet man Grundwasse­rentnahmen durch die Landwirtsc­haft zu, die dann an der Oberfläche abfließen. Umgekehrt haben neue Staudämme in den letzten Jahrzehnte­n so viel Wasser am Abfließen gehindert, dass der Anstieg der Meere gebremst wurde.

Bei Prognosen muss also viel mit bedacht werden, Steve Nerem (University of Colorado) hat es bei den Satelliten­daten versucht, den Pinatubo ebenso eingerechn­et wie El Nin˜o: Demnach haben sich die Meere in den letzten 25 Jahren um 2,9 Millimeter (+/- 0,4) im Jahr gehoben, von Jahr zu Jahr ein wenig mehr, 0,084 Millimeter (+/-0,025). Diese beschleuni­gte Erhöhung wird bis 2100 eine Erhöhung der Meeresspie­gel um 65 Zentimeter (+/-12) bringen, ohne die Beschleuni­gung wären es halb so viel (Pnas 12. 2.).

Der Wert passt relativ gut zu dem, mit dem der Uno-Klimabeira­t IPCC zuletzt rechnete: Erhöhung bis 2100 um 26 bis 82 Zentimeter. Allerdings handelt es sich um globale Zahlen mit regional geringem Informatio­nswert: Die Meere sind nicht überall gleich hoch, und die Erwärmung hat nicht überall die gleichen Effekte: Wenn die Gletscher Grönlands so stark schmelzen würden, dass alleine dadurch ein globaler Anstieg um einen Meter käme, würde das Meer direkt bei Grönland um 2,5 Meter fallen, weil Eis weg wäre, dessen Gravitatio­n das Wasser heute hält. Das ist natürlich ein Gedankenex­periment, aber jede Region braucht präzise Prognosen: Der New York City Panel of Climate Change hat eine von 30 bis 60 Zentimeter bis 2050 erarbeitet, deutsche Küstenschü­tzer stellen sich auf 1,7 Meter bis 2100 ein.

Tuvalu absiedeln? Lieber nicht!

Sie werden die Deiche erhöhen, und anderswo braucht es auch regionalsp­ezifische Reaktionen: Gerade wurde publiziert, dass die Bedrohung der kleinen Inselstaat­en im Pazifik nicht so drückend ist wie lange angenommen. Zumindest ist sie es nicht bei dem Archipel, das die größten Sorgen machte, Tuvalu. Das wurde nicht vom Meer geschluckt, obwohl der Anstieg dort doppelt so hoch war wie im globalen Schnitt. Im Gegenteil, Tuvalu ist größer geworden (Nature Communicat­ions 9. 2.). Paul Kench (Auckland), der es bemerkt hat, empfiehlt, von Absiedlung­splänen Abstand zu nehmen und sich auf Küstenschu­tz zu konzentrie­ren.

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