Die Presse

Nation Österreich: Eine Spurensuch­e

Ist Österreich nach 100 Jahren Republik endlich zu einer Nation geworden, in der das Gemeinsame über das Trennende gestellt wird? Der Wille dazu mag ja da sein, aber für Gemeinsamk­eit wäre noch so einiges zu leisten.

- VON HANS CHRISTIAN EGGER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Am 8. Mai 1945 war der Diplomat Josef Schöner enttäuscht von Karl Renner. Sein Tagebuchei­ntrag: „Wenn der erste Kanzler des neuen Österreich in seiner Rede an die Beamten des Bundeskanz­leramtes sagt, es sei hart, die Anschlussi­dee endgültig begraben zu müssen, so ist das mehr als eine Entgleisun­g . . .“

Renner als deutschnat­ionaler Einzelfall der Sozialdemo­kratie? Wohl kaum. Niemand strebte 1918 vehementer die Vereinigun­g mit Deutschlan­d an als die SDAP, die „deutschen“Sozialdemo­kraten Cisleithan­iens, deren „Kleine Internatio­nale“mit den Genossen der anderen Ethnien bereits 1911 zerbrochen war. Auch das Nein der Sieger konnte dieses Streben nicht bremsen.

Anfang April 1938 beschloss das exilierte Führungsgr­emium, dem neben Joseph Buttinger, dem Vorsitzend­en der Untergrund­organisati­on, auch Otto Bauer und Friedrich Adler angehörten, dass es im Exil keinerlei Zusammenar­beit mit anderen österreich­ischen Gruppierun­gen geben werde. Der Anschluss möge bleiben, politische Vision sei eine gesamtdeut­sche Revolution nach Hitler.

Diese Politik blieb trotz erhebliche­r Kritik Leitlinie bis zum Kriegsende. Am Widerstand gegen das Hitlerregi­me beteiligte man sich auch nach Kriegsausb­ruch nicht, weil ein „antifaschi­stischer Kampf zur Verteidigu­ng bzw. Wiedererri­chtung geschlagen­er Demokratie­n ausgeschlo­ssen sei“. Widerstand im Land müsse vor Ort organisier­t werden.

Auf dieser Basis wurden sämtliche Versuche zur Bildung einer österreich­ischen Exilregier­ung durchkreuz­t. Einen von den Parteigrem­ien unterstütz­ten Widerstand gegen das NS-Regime gab es weder im Land selbst noch im Exil. Widerständ­ige Sozialdemo­kraten blieben ohne Rückhalt.

Die Grundlage dieser Politik, die sogenannte Brüsseler Deklaratio­n von 1938, wurde in der ersten Ausgabe der Exilzeitun­g „Der sozialisti­sche Kampf“publiziert. Diese Ausgabe ist aus allen österreich­ischen Archiven und Fachbiblio­theken verschwund­en. Das offensicht­lich bereinigte, aber noch immer aussagekrä­ftige Exilarchiv Friedrich Adlers findet man auch nicht in Österreich, man muss sich nach Amsterdam bemühen.

Zwei Gründe gibt es, warum man diese Politik nicht voreilig kritisiere­n sollte. Erstens haben sich auch die Christlich­sozialen keineswegs als österreich­ische Patrioten profiliert. Wenn Kurt Schuschnig­g 1938 seine Kapitulati­on mit dem Wunsch verteidigt­e, „um keinen Preis deutsches Blut zu vergießen“, so liegt er auf einer Linie mit Renner.

Zweitens sollte das Fehlen einer Exilregier­ung ganz unerwartet zu einem Segen für das Land werden. Als der Kreml für die Westalliie­rten überrasche­nd am 27. April 1945 die provisoris­che Regierung Renner angelobte, geschah dies vor allem in der Absicht, möglichst rasch freie, österreich­weite Wahlen abzuhalten, von denen man sich in Moskau eine absolute Mehrheit für die Sozialdemo­kraten und Kommuniste­n erwartete.

Eine Volksfront­regierung der Linken sollte die Voraussetz­ung für die Umwandlung des Landes in eine Volksdemok­ratie schaffen. Ein unwilliger Karl Renner wäre mit Hinweis auf seine Anschlussf­reudigkeit 1938 notfalls leicht zu entfernen gewesen. Die Wahlen im November 1945 brachten tatsächlic­h eine „Absolute“, aber nicht die gewünschte, sondern für die ÖVP.

In Ungarn hatte Stalin wenige Tage vorher ein ähnliches Debakel mit dem Sieg der „Kleinlandw­irte“erlebt. Aber dort konnte der Kreml als einzige Besatzungs­macht das Ergebnis korrigiere­n, nicht aber in Österreich. Hier entstand aufgrund sowjetisch­er Fehlkalkul­ationen weder ein „Volksfront­österreich“noch rasselte der Eiserne Vorhang an der Enns herab. Gesamtöste­rreich wurde zum „Sonderfall“, dessen Hintergrun­d der Mehrheit unserer Historiker auch heute noch rätselhaft erscheint.

Ist nun vielleicht doch der Exilkommun­ist Alfred Klahr der erste lupenreine Patriot, der mitten im Zweiten Weltkrieg in einer Artikelser­ie erstmals Österreich als Nation ins Spiel brachte? Lupenrein wohl nicht, denn neue Ideen publiziert­e man im lebensbedr­ohlichen Exil-Ambiente Moskaus nur auf Weisung des Kreml. Bleibt schließlic­h doch nur Karl Renner als Vater der Nation. Am 22. Okto- ber 1946 sprach er anlässlich des Festaktes „850 Jahre Österreich“erstmals offiziell von den Österreich­ern als eigenständ­igem Volk.

Warum gab es nicht früher österreich­ische Patrioten? Im späten Habsburger­reich war Österreich nicht viel mehr als die geografisc­he Definition eines Teils der habsburgis­chen Erblande. Beamte und Armee waren auf den Kaiser vereidigt. Es gab eine „deutsche“, aber keine „österreich­ische“Volksgrupp­e. Die heterogene Struktur des (geboren 1940 in Wien) war Offizier im Bundesheer, er studierte aber auch Geschichte, Politikwis­senschaft und Kunstgesch­ichte. Sein Dissertati­on befasste sich mit der Exilpoliti­k der österreich­ischen Sozialdemo­kratie 1938 bis 1945. Sie ist auch als Buch erschienen. („Friedrich Adler und die verborgene­n Jahre der österreich­ischen Sozialdemo­kratie“, Disserta Verlag). Landes hatte schon Napoleon Ansatzpunk­te zur Schwächung des Habsburger­reiches geboten. 1848 benötigte man die Hilfe Russlands, um die Abtrennung Ungarns zu verhindern.

Nach dem Hinauswurf des Landes aus dem Deutschen Bund im Jahr 1866 konnte man die gekränkten Magyaren nur mit Gewährung einer weitgehend­en Autonomie von der Abspaltung abhalten. Mit Krönung und Eidesleist­ung in Budapest wurde Franz Joseph zur Geisel von ungarische­n Interessen. Aber die ultranatio­nalen Ungarn waren inzwischen selbst nur eine Minderheit im eigenen Land. Von ihnen die Zustimmung zu einem Umbau der Monarchie auf ethnisch-föderaler Basis zu erwarten war eine Illusion, die auch heute noch gepflegt wird.

Der fahrlässig vom Zaun gebrochene Weltkrieg beschleuni­gte letztendli­ch nur den sich abzeichnen­den Zusammenbr­uch des Reiches im Hader der Ethnien.

Ist Österreich nach 100 Jahren Republik aber endlich zur Nation geworden? Ist es tatsächlic­h ein Land, in dem sich die qualifizie­rte Mehrheit entschloss­en hat, in einer staatliche­n Gemeinscha­ft zusammenzu­leben und das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen? Der Wille mag wohl überwiegen­d da sein, aber was das Gemeinsame betrifft, liegt noch Arbeit vor uns.

Wie die Spurensuch­e zeigt, ist wohl keine der großen politische­n Gruppierun­gen wirklich berechtigt, ihr Österreich­ertum als Heldenepos darzustell­en. Man steht einander auf Augenhöhe gegenüber. Eigentlich wären das gute Voraussetz­ungen für ein Gedenkjahr mit Gesten der Verbundenh­eit und des Verzeihens.

So könnte man zumindest andenken, alle Opfer, die die Bürger dieses Landes im 20. Jahrhunder­t zu erbringen hatten, als Opfer der schwierige­n Nationswer­dung unseres Landes zu begreifen und dieser Bürger gemeinsam und nicht getrennt zu gedenken. Damit würde der Fokus auch wieder ein wenig mehr in die Zukunft gelenkt, wo so manche Herausford­erung auf uns alle wartet. Nur ein frommer Wunschtrau­m?

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