Die Presse

Der „Fall“Selmayr und das journalist­ische Jagdfieber

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

Seit Jüngstem geht es in der sonst bisweilen ein wenig schläfrige­n täglichen Mittagspre­ssekonfere­nz der Europäisch­en Kommission heiß her. Denn einer der Doyens der hiesigen Korrespond­entenriege, Jean Quatremer von der französisc­hen „Liberation“,´ bemüßigt sich entgegen seinen sonstigen Gepflogenh­eiten nicht bloß dazu, zu diesem „Midday Briefing“zu erscheinen, nein, er legt hier auch gehörig los. Der Anlass ist die bemerkensw­ert rasante Bestellung von Martin Selmayr, dem bisherigen Kabinettsc­hef des Kommission­svorsitzen­den, Jean-Claude Juncker, zum Generalsek­retär der Kommission, einem äußerst wichtigen, mit großer politische­r Machtfülle ausgestatt­eten Amt.

Quatremer, dem vor einem Vierteljah­rhundert das Bravourstü­ck gelang, die korrupten Machenscha­ften der französisc­hen Kommissari­n Edith Cresson zu enthüllen, als Folge dessen die gesamte Kommission unter Jacques Santer zurücktrat (nur Franz Fischler wurde später wiederbest­ellt), wittert nun die Verschwöru­ng. Selmayr habe sich unrechtmäß­ig nach oben gehangelt, Bestellung­svorschrif­ten seien missachtet, das Recht gebrochen worden. Knapp am Schreiduel­l verlaufen seine Frage-Antwort-Duelle, man kann sich das direkt und in Aufzeichnu­ng ansehen, ein schöner Anblick ist es nicht.

Denn im Windschatt­en des berühmten Jean wittern einige Kollegen die Gelegenhei­t, der oft nicht sehr auskunftsf­reudigen Kommission auf die Zehen zu treten. Das muss man gut finden, wenn es der Wahrheitsf­indung dient. Doch nachdem ich nun einem halben Dutzend dieser Spektakel beigewohnt habe, zweifle ich, ob wirklich die Sache und nicht doch persönlich­e Eitelkeite­n im Mittelpunk­t stehen. Wenn da in einem Atemzug Selmayrs Bestellung mit Angriffen auf die Demokratie und der Ermordung des slowakisch­en Journalist­en Jan´ Kuciak zusammenge­rafft werden, schrammt man allzu knapp an publizisti­scher Leichenfle­dderei vorbei. Jagdfieber ist letztlich, ob im Wald oder auf der Pressekonf­erenz, kein Seelenzust­and großer Klarsichti­gkeit.

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