Verdrängung im Dreivierteltakt
Schauspielhaus Graz. Berührend und beklemmend: „Jedem das Seine“, ein Stück über jüdische Häftlinge, die eine Operette proben.
Düsteres Licht fällt von außen durch die Ritzen der Holzwand, wirft Streifen auf Strohballen, Wände, die massiven Balken. Ein gewöhnlicher Heustadel irgendwo im ländlichen Österreich. Es ist 1945, in wenigen Tagen wird der Zweite Weltkrieg vorbei sein. Bis dahin treiben die Nazis ungarische Juden in langen Fußmärschen durch das Land, in Richtung Mauthausen. Rund 23.000 werden auf dem Weg dorthin umgekommen sein: verhungert, aus Erschöpfung zusammengebrochen oder erschossen – auch von Einwohnern der Ortschaften entlang des Weges. „Die Welt da draußen will uns töten“, sagt Lou Gandolf zu Beginn des Stücks „Jedem das Seine“, das derzeit am Grazer Schauspielhaus zu sehen ist. „Deshalb müssen wir so tun, als wären wir in einer anderen.“
Es ist ein eindringliches Stück, das, geschrieben von Silke Hassler und Peter Turrini, 2007 uraufgeführt und 2011 von Elisabeth Scharang unter dem Titel „Vielleicht in einem anderen Leben“verfilmt, vom Regisseur und Musiker Sandy Lopicic nun zugleich dicht und gestreckt inszeniert wurde: Kraftvoll und emotional wird die Geschichte der jüdischen Häftlinge erzählt, die, um sich von Todesangst und Leid abzulenken, im Stadel eine Aufführung von „Wiener Blut“zustande zu bringen versuchen. Traumsequenzen und musikalische Abzweigungen bringen das Seelenleben dieser Figuren zum Ausdruck.
Da ertönen dann jüdische und ungarische Volkslieder, Schubert und Smetana, während von draußen Gerüchte über das nahende Kriegsende in die Scheune dringen und drinnen die einende, tröstende Kraft der Kunst beschworen wird. Die Darsteller der Häftlinge sind zugleich die Bühnenmusiker, Andri Schenardi spielt anfangs verhalten, aber mit wachsendem Temperament und stets edlen Gebärden den „irrtümlich“aus Budapest ver- triebenen Operettensänger Gandolf: „Ich bin kein Jude. Ich bin Tenor!“Bald gewinnt er die Gunst einer Bäuerin, die seine musikalischen Ambitionen mit Essbarem entlohnt; Margarethe Tiesel spielt sie großartig als resolute Frau, der bei der Erinnerung an selige Vorkriegszeiten das Herz aufgeht. Von Antisemitismus hält sie gar nichts, ihr Mann (Franz Solar) hat ihn aber verinnerlicht: „Du fütterst den Volksfeind, das ist Hochverrat.“Die Bäurin entgegnet: „Das is ka Hochverrat, das is a Erdäpfelsuppen.“
Das Komische, die Heiterkeit kommt hier im bitteren Kleid daher, manch kurzes Auflachen gönnt sich das Publikum, doch es währt nie allzu lange: Zu kläglich ist das Unterfangen, mit ein bisschen Musik das große Verbrechen auszublenden, zu präsent das Elend, das alle Figuren erfasst hat. „Jedem das Seine“, ursprünglich ein antiker Rechtsbegriff, stand – von innen lesbar – auf dem Tor des KZ Buchenwald. Bei Turrini/Hassler findet der so zynisch missbrauchte Spruch in einen ehelichen Schlagabtausch. Beklemmung und Witz fließen hier zusammen – ähnlich wie in Roberto Benignis „Das Leben ist schön“– und machen die Geschichte so verträglich und zugleich berührend, wie eine reine Tragödie es nie vermocht hätte.
So wird hier kitschfrei erzählt, wie Häftlinge und Bauernfamilie das Gemeinsame erkennen und in Theaterspiel und Musik das „Licht am Ende der Finsternis“erahnen. Instrumente werden verteilt, eine neue Geschäftigkeit ereilt die Figuren, Gandolf tänzelt im Dreivierteltakt über die Bühne, selbst der aufbrausende Bauer packt im Bier- rausch die Quetschn aus – und bietet dem jüdischen Schneider, der die vom örtlichen Passionsspiel übrig gebliebenen Kluften notdürftig in Operettenkostüme umnäht, in einer Szene behutsam beginnender Freundschaft einen Schluck aus seiner Flasche an.
Ruhig, fast statisch inszenierte Passagen wechseln sich mit wilden ab, stimmungsvolle, oft melancholische Musik unterstreicht die Handlung, walzt sie aber auch aus. Gelungen, wenn im Vergleich zu den geerdeten Stadelszenen auch grotesk, sind jene Momente, in denen die hintere Holzwand des Bühnenbilds nach oben fährt und den Blick hinter die Kulissen freigibt, wo sich Absonderliches abspielt: Figuren tollen, im Rhythmus versunken, von Trommel zu Trommel – aus Angst, Paranoia, Wahn? Ein andermal wird eine überdimensionale Kartoffel über den Boden gerollt, ein Bild wie aus dem Fiebertraum eines hungernden Menschen. Und als die Nachricht vom Tod Hitlers kommt, steigert sich die finale Aufführung zu einem geradezu kathartischen Toben: Erschöpfung und Erlösung brechen sich Bahn, die Figuren stampfen, schreien, schlagen um sich – ahnungslos ob des Endes, das sie noch erwartet.
Neun Häftlinge sind es im Grazer Bühnenstadel, im Stücktext vorgesehen sind zehn – damit ließe sich auch der lose Rahmen erklären, in den Regisseur Lopicic die eigentliche Erzählung packt: Da gießt ein Bub von heute, ausgestattet mit Jeans und Smartphone, mit einer Schöpfkelle von der Decke hängende Pflanzentöpfe, zehn an der Zahl, und murmelt dabei: „Für die hungrigen Seelen.“Nötig gewesen wäre das wohl nicht, der Begeisterung des Grazer Premierenpublikum tat’s keinen Abbruch: Das jubelte, auch im Stehen.