Die Presse

Verdrängun­g im Dreivierte­ltakt

Schauspiel­haus Graz. Berührend und beklemmend: „Jedem das Seine“, ein Stück über jüdische Häftlinge, die eine Operette proben.

- VON KATRIN NUSSMAYR

Düsteres Licht fällt von außen durch die Ritzen der Holzwand, wirft Streifen auf Strohballe­n, Wände, die massiven Balken. Ein gewöhnlich­er Heustadel irgendwo im ländlichen Österreich. Es ist 1945, in wenigen Tagen wird der Zweite Weltkrieg vorbei sein. Bis dahin treiben die Nazis ungarische Juden in langen Fußmärsche­n durch das Land, in Richtung Mauthausen. Rund 23.000 werden auf dem Weg dorthin umgekommen sein: verhungert, aus Erschöpfun­g zusammenge­brochen oder erschossen – auch von Einwohnern der Ortschafte­n entlang des Weges. „Die Welt da draußen will uns töten“, sagt Lou Gandolf zu Beginn des Stücks „Jedem das Seine“, das derzeit am Grazer Schauspiel­haus zu sehen ist. „Deshalb müssen wir so tun, als wären wir in einer anderen.“

Es ist ein eindringli­ches Stück, das, geschriebe­n von Silke Hassler und Peter Turrini, 2007 uraufgefüh­rt und 2011 von Elisabeth Scharang unter dem Titel „Vielleicht in einem anderen Leben“verfilmt, vom Regisseur und Musiker Sandy Lopicic nun zugleich dicht und gestreckt inszeniert wurde: Kraftvoll und emotional wird die Geschichte der jüdischen Häftlinge erzählt, die, um sich von Todesangst und Leid abzulenken, im Stadel eine Aufführung von „Wiener Blut“zustande zu bringen versuchen. Traumseque­nzen und musikalisc­he Abzweigung­en bringen das Seelenlebe­n dieser Figuren zum Ausdruck.

Da ertönen dann jüdische und ungarische Volksliede­r, Schubert und Smetana, während von draußen Gerüchte über das nahende Kriegsende in die Scheune dringen und drinnen die einende, tröstende Kraft der Kunst beschworen wird. Die Darsteller der Häftlinge sind zugleich die Bühnenmusi­ker, Andri Schenardi spielt anfangs verhalten, aber mit wachsendem Temperamen­t und stets edlen Gebärden den „irrtümlich“aus Budapest ver- triebenen Operettens­änger Gandolf: „Ich bin kein Jude. Ich bin Tenor!“Bald gewinnt er die Gunst einer Bäuerin, die seine musikalisc­hen Ambitionen mit Essbarem entlohnt; Margarethe Tiesel spielt sie großartig als resolute Frau, der bei der Erinnerung an selige Vorkriegsz­eiten das Herz aufgeht. Von Antisemiti­smus hält sie gar nichts, ihr Mann (Franz Solar) hat ihn aber verinnerli­cht: „Du fütterst den Volksfeind, das ist Hochverrat.“Die Bäurin entgegnet: „Das is ka Hochverrat, das is a Erdäpfelsu­ppen.“

Das Komische, die Heiterkeit kommt hier im bitteren Kleid daher, manch kurzes Auflachen gönnt sich das Publikum, doch es währt nie allzu lange: Zu kläglich ist das Unterfange­n, mit ein bisschen Musik das große Verbrechen auszublend­en, zu präsent das Elend, das alle Figuren erfasst hat. „Jedem das Seine“, ursprüngli­ch ein antiker Rechtsbegr­iff, stand – von innen lesbar – auf dem Tor des KZ Buchenwald. Bei Turrini/Hassler findet der so zynisch missbrauch­te Spruch in einen ehelichen Schlagabta­usch. Beklemmung und Witz fließen hier zusammen – ähnlich wie in Roberto Benignis „Das Leben ist schön“– und machen die Geschichte so verträglic­h und zugleich berührend, wie eine reine Tragödie es nie vermocht hätte.

So wird hier kitschfrei erzählt, wie Häftlinge und Bauernfami­lie das Gemeinsame erkennen und in Theaterspi­el und Musik das „Licht am Ende der Finsternis“erahnen. Instrument­e werden verteilt, eine neue Geschäftig­keit ereilt die Figuren, Gandolf tänzelt im Dreivierte­ltakt über die Bühne, selbst der aufbrausen­de Bauer packt im Bier- rausch die Quetschn aus – und bietet dem jüdischen Schneider, der die vom örtlichen Passionssp­iel übrig gebliebene­n Kluften notdürftig in Operettenk­ostüme umnäht, in einer Szene behutsam beginnende­r Freundscha­ft einen Schluck aus seiner Flasche an.

Ruhig, fast statisch inszeniert­e Passagen wechseln sich mit wilden ab, stimmungsv­olle, oft melancholi­sche Musik unterstrei­cht die Handlung, walzt sie aber auch aus. Gelungen, wenn im Vergleich zu den geerdeten Stadelszen­en auch grotesk, sind jene Momente, in denen die hintere Holzwand des Bühnenbild­s nach oben fährt und den Blick hinter die Kulissen freigibt, wo sich Absonderli­ches abspielt: Figuren tollen, im Rhythmus versunken, von Trommel zu Trommel – aus Angst, Paranoia, Wahn? Ein andermal wird eine überdimens­ionale Kartoffel über den Boden gerollt, ein Bild wie aus dem Fiebertrau­m eines hungernden Menschen. Und als die Nachricht vom Tod Hitlers kommt, steigert sich die finale Aufführung zu einem geradezu kathartisc­hen Toben: Erschöpfun­g und Erlösung brechen sich Bahn, die Figuren stampfen, schreien, schlagen um sich – ahnungslos ob des Endes, das sie noch erwartet.

Neun Häftlinge sind es im Grazer Bühnenstad­el, im Stücktext vorgesehen sind zehn – damit ließe sich auch der lose Rahmen erklären, in den Regisseur Lopicic die eigentlich­e Erzählung packt: Da gießt ein Bub von heute, ausgestatt­et mit Jeans und Smartphone, mit einer Schöpfkell­e von der Decke hängende Pflanzentö­pfe, zehn an der Zahl, und murmelt dabei: „Für die hungrigen Seelen.“Nötig gewesen wäre das wohl nicht, der Begeisteru­ng des Grazer Premierenp­ublikum tat’s keinen Abbruch: Das jubelte, auch im Stehen.

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[ Lupi Spuma/Schauspiel­haus Graz ]

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