Die Presse

Männer verlassen die Kirche anders als Frauen

Drei Wiener Soziologin­nen untersucht­en, warum sich Österreich­er von der Kirche abwenden. Sie fanden zwei unterschie­dliche Gruppen: Die eine kann mit dem Glauben nichts anfangen, die andere will dafür nicht bezahlen.

- VON ALICE GRANCY

Mitunter entscheide­t ein Augenblick darüber, wie es im Leben weitergeht. Bei einer 48-Jährigen, die sich für die Forschung von drei Wiener Soziologin­nen befragen ließ, war es der Moment, als eine Pastoralas­sistentin ihr mitteilte, dass ihr aus der Kirche ausgetrete­ner Partner nicht bei der Taufe des gemeinsame­n Kindes dabei sein könne. Da wurde ihr klar, wie weit sie sich selbst bereits vom institutio­nalisierte­n Glauben entfernt hatte – und sie trat aus.

„Die meisten erinnern sich gut an den Zeitpunkt, als sie die Kirche verlassen haben“, erzählt Caroline Berghammer vom Institut für Demografie der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW). „Wenn Leute wenig Kontakte zur Kirche haben, gewinnen Einzelerle­bnisse, etwa auch eine negative Erfahrung bei der Kirchenbei­tragsstell­e, an Gewicht“, sagt Berghammer. „Sie sind nicht der einzige Grund, aber sie bringen das Fass zum Überlaufen.“

Die Austrittsz­ahlen schießen nicht nur bei Skandalen in die Höhe. Auch wie die Kirche mit diesen umgeht, sei essenziell: Als 2010 erneut Fälle sexuellen Missbrauch­s in katholisch­en Einrichtun­gen bekannt wurden, erlebte Österreich die größte Austrittsw­elle der vergangene­n 60 Jahre. Der Schaden blieb. „Die Zahl der Austritte ging nie mehr auf das frühere Niveau zurück“, so Berghammer.

Ähnlich wie in Deutschlan­d oder der Schweiz, aber anders als in den meisten Staaten weltweit, ist in Österreich mit der Zugehörigk­eit zur Glaubensge­meinschaft ein verpflicht­ender Beitrag verbunden. Und damit ein bürokratis­cher Akt, um auszusteig­en. Daran lässt sich für die Forscher gut messen, wann sich jemand endgültig von der Kirche als Institutio­n abwendet.

Im Unterschie­d zu Deutschlan­d und anderen Ländern, wo vor allem junge Erwachsene die Kirche verlassen, ist in Österreich das Austrittsa­lter an keine bestimmte Lebensphas­e gebunden. „Wir sehen einen leichten Anstieg bei jenen, die in den Arbeitsmar­kt eintreten, also Kirchenste­uer zahlen müssen, aber keinen starken Effekt. Die Austritte sind über den gesamten Lebenslauf verteilt“, sagt Berghammer.

Die Formalität­en – in Österreich geht man mit Taufschein, Meldezette­l, Lichtbilda­usweis und einem kurzen Anschreibe­n auf die Bezirkshau­ptmannscha­ft oder den ihrer Mitglieder hat die römisch-katholisch­e Kirche in Österreich seit Beginn der 1960er-Jahre verloren.

traten allein 2010 nach dem erneuten Skandal um Missbrauch­sfälle in kirchliche­n Einrichtun­gen aus. Das war die größte Austrittsw­elle der vergangene­n 50 Jahre. Noch ist Österreich aber einer der 15 EU-Staaten, in denen Katholiken die stärkste Glaubensge­meinschaft bilden. Magistrat – sind allerdings schnell erledigt. Dennoch sind sie meist nur das Resultat längerer Überlegung­en, bei denen es nicht allein ums Geld geht. „Die Kirchenste­uer stört viele, ist aber bei Weitem nicht das einzige Argument“, sagt die 38-jährige Forscherin, die die Ergebnisse ihrer Studie nun gemeinsam mit Ulrike Zartler (Uni Wien) und Desiree´ Krivanek (ÖAW) im „Journal for the Scientific Study of Religion“veröffentl­icht hat.

Berghammer und ihre Kolleginne­n interessie­rte vor allem, wie wichtig die Familie für die Entscheidu­ng ist, die Kirche zu verlassen. Das sei ein bisher von der Forschung in Österreich gänzlich ausgeblend­eter Aspekt, sagt sie. Die Forscherin­nen interviewt­en dazu einerseits 19 ehemalige Katholiken. Anderersei­ts nutzten sie Daten aus dem „Generation­s and Gender Survey“, den die Statistik Austria erhebt. Darin wurden im Abstand von vier Jahren die Einstellun­gen der Österreich­er zu Familie, Partnersch­aft und Kindern erfasst. Die Forscher fokussiert­en vor allem auf die Daten jener Personen, die 2008 noch römisch-katholisch und 2012 bereits ausgetrete­n waren.

Sowohl in der qualitativ­en Befragung als auch in der quantitati­ven Analyse identifizi­erten die Forscherin­nen zwei Gruppen ehemaliger Katholiken: Erstens die sogenannte­n distanzier­ten Kirchenaus­treter, die sich selbst als Atheisten oder Agnostiker sehen, also nicht an Gott oder die Existenz einer höheren Instanz glauben. Gott habe für sein Leben dieselbe Relevanz wie Spiderman, schilderte etwa ein 34-jähriger Interviewp­artner. „Wenn ich nicht daran glaube, warum soll ich dann dabeibleib­en?“, fragte ein weiterer, 22-Jähriger.

Für ihn und andere – eher Männer – sind ideologisc­he Gründe ausschlagg­ebend für die als pragmatisc­h beschriebe­ne Entscheidu­ng: Sie geben an, nicht zu vertreten, wofür die Kirche steht. Diese Personen zweifeln nicht und treten durchschni­ttlich vier Jahre früher aus als solche aus der zweiten Gruppe. Wer dieser angehört – eher Frauen –, ist dem Glauben auch ohne Bekenntnis zugewandt und will ihn leben, sieht aber nicht ein, warum er dafür bezahlen soll. Sie müsse nicht Kirchenste­uer zahlen oder in die Kirche gehen, um zu glauben, rechtferti­gte sich etwa eine 45-Jährige im Gespräch. Das könne sie genauso gut zu Hause tun. „Diese Menschen überlegen lang, bevor sie austreten, und haben oft ein schlechtes Gewissen“, erklärt Berghammer.

Was beide Gruppen verbindet, ist die Bedeutung der religiösen Sozialisat­ion im Elternhaus. Hat diese gefehlt, tritt man eher aus. Vor allem die der Religion eher zugeneigte Gruppe haderte mit der Entscheidu­ng, „weil sie die Mutter oder Großmutter nicht enttäusche­n wollten“. Die Gruppe, die dem Glauben eher distanzier­t gegenübers­teht, nannte hingegen öfter den Partner als Anlass: Trat dieser aus, sahen sie selbst auch häufiger keinen Grund mehr, dabeizuble­iben.

Für beide Gruppen, vor allem aber für jene, die dem Glauben zugewandt war, liefern sogenannte­n Passagerit­en – Feste wie Taufe, Erstkommun­ion oder die Firmung, die den Übergang in eine andere Lebensphas­e markieren – zunächst einen wichtigen Grund dabeizuble­iben. „Man will etwa zuerst kirchlich heiraten“, schildert Berghammer. Andere wiederum blieben ein Leben lang Mitglied der Glaubensge­meinschaft, weil sie einmal ein christlich­es Begräbnis haben wollen.

In beiden Gruppen wurden die moralische­n Konzepte der katholisch­en Kirche kritisiert. „Ich möchte nicht Teil von etwas sein, was Verhütungs­mittel oder Abtreibung verbietet“, hieß es etwa. Auch die stark hierarchis­che Struktur der Kirche wurde abgelehnt.

Was passiert nun mit den Forschungs­ergebnisse­n? Berghammer hat sie an ihre Ansprechpa­rtner innerhalb der katholisch­en Kirche Österreich geschickt. Die Rückmeldun­g ist noch offen.

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[ Reuters/Stefano Rellandini]

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