Die Presse

Die innere Dynamik südasiatis­cher Philosophi­e

Das Besondere an den indischen Schulen des Mittelalte­rs ist, dass ihre Vertreter Argumente in der Auseinande­rsetzung mit den Gegnern entwickelt haben. Ein Forschungs­projekt ging den Konfliktli­nien nach.

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Gibt es eine universell­e Gottheit, oder handelt es sich beim Glauben daran nur um eine mentale Konstrukti­on? Über diese Frage stritten die Religionsg­elehrten im Indien des Mittelalte­rs. Um ihren Streit auszutrage­n, trafen sie sich. „Die Vertreter der verschiede­nen Richtungen legten ihre Meinung dar, widerlegte­n sich gegenseiti­g und einigten sich gegebenenf­alls auf einen Sieger“, erzählt Marion Rastelli, Indologin an der Akademie der Wissenscha­ften.

Rastelli begleitete ein Forschungs­projekt, in dem untersucht wurde, welchen Einflüssen die sivaitisch­e Schule der „Pratyabhij­na“im Kaschmir des zehnten und elften Jahrhunder­ts unterlag und wie sie sich in der Auseinande­rsetzung mit der buddhistis­chen Lehre verhielt. Der Buddhismus verneint nämlich die Existenz alles Bleibenden wie des Selbst oder eines Gottes. Er akzeptiert nur die Existenz augenblick­licher Ereignisse. In der Argumentat­ion bedient sich die buddhistis­che Philosophi­e der erkenntnis­theoretisc­hen Lehre der „Sonderung“(„apoha“). Sie wurde ursprüngli­ch entwickelt, um die nominalist­ische Vorstellun­g zu verteidige­n, dass sich Begriffe nicht auf reale Universali­en, sondern nur auf mentale Konstrukte beziehen. „Die Sonderung ist eine der einflussre­ichsten philosophi­schen Lehren, die jemals in Indien entwickelt wurden“, so Rastelli.

Die sivaitisch­e Lehre vertritt dagegen die Existenz eines „realen Selbst“, welches als Gott Siva verstanden wird. „Siva wird als allumfasse­ndes Bewusstsei­n begriffen, das sowohl universale­s Selbst als auch Schöpfer der Welt ist“, so Rastelli. Um in der Auseinande­rsetzung der Schulen bestehen und die Existenz von Siva beweisen zu können, eigneten sich die sivaitisch­en Philosophe­n Utpaladeva und Abhinavagu­pta im zehnten und elften Jahrhunder­t die Lehre der Sonderung an, die vermutlich aus dem sechsten Jahrhunder­t stammt, und deuteten sie so um, dass sie mit ihren eigenen metaphysis­chen Grundsätze­n vereinbar war. Sie waren Vertreter der Pratyabhij­naSchule, die auch als die Schule des Wiedererke­nnens bezeichnet wird. Dass sie sich auf einen wichtigen Sprachphil­osophen des fünften Jahrhunder­ts namens Bhartrhari gestützt haben, weisen die Untersuchu­ngen von Marco Ferrante nach.

Er führte das vom Wissenscha­ftsfonds FWF geförderte Projekt zu Ende, nachdem die erste Besetzung, Isabelle Ratie,´ 2014 einen Ruf an die Sorbonne Nouvelle, Paris 3, bekommen hatte. Ferrante ist inzwischen Berggruen Research Fellow in Vergleiche­nder Philosophi­e in Oxford und gegenwärti­g dabei, seine Ergebnisse aus dem FWF

bedeutet die Abgrenzung oder Isolation nach dem Ausschluss­prinzip. Damit wird die Vorstellun­g verteidigt, dass Begriffe nicht reale Elemente, sondern nur mentale Konstrukte beschreibe­n. im Detail zu veröffentl­ichen. Seine Erkenntnis­se werfen ein neues Licht auf die Pratyabhij­na-Tradition, die innere Dynamik der südasiatis­chen Philosophi­e und das Zusammenwi­rken von buddhistis­chen und brahmanisc­hen Traditione­n. Eine besondere Rolle in der Philosophi­e der Pratyabhij­naSchule spielen dabei folgende vier Punkte: erstens die Bejahung der Frage, dass eine Wahrnehmun­g gleichzeit­ig ein Objekt und sich selbst erfasst. Daraus folgt für die Pratyabhij­na, dass es ein erkennende­s Subjekt gibt. Zweitens den Zusammenha­ng von Sprache, Erkenntnis und Bewusstsei­n, aus dem gefolgert wird, dass Bewusstsei­n sprachlich ist. Drittens die Natur der Beziehunge­n als Realität und nicht nur als gedanklich­es Konstrukt wie im Buddhismus. Viertens hat Ferrante die Auseinande­rsetzung zur Frage untersucht, inwieweit es einen freien Willen in der Wahrnehmun­g der Realität und ihrer Strukturen gibt. Er kommt zu dem Schluss, dass dieser der ultimative Antrieb für diese ist.

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