Doch ich muss hindurch!
Franz Mixner. Geboren 1912 in Wien. Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Wien. Promotion Anfang Februar 1938. Ab 1939 Zollwachedienst in Aachen, später Weltkriegsteilnahme, Verwundung und Kriegsgefangenschaft. Heirat 1939, drei Kinder (geboren 1942, 1943 und 1948). Nach dem Krieg in Wien als Finanzbeamter tätig. Gestorben ebenda 1993. Führte von 1934 bis einen Tag vor seinem Tod Tagebuch.
13. Februar 1938. Endlich ist das Ereignis eingetreten, das ich immer herbeigesehnt hatte [Treffen Hitler–Schuschnigg]. Freilich darf ich jetzt nicht hoffen, dass alle Gegensätzlichkeiten durch die Aussprache verschwunden sein werden.
16. Februar. Besuch bei Sepp. Ich bat um Rat. Sepp meinte, ich solle jetzt in dieser Zeit des Gärens mich nicht zum Sturmkorps melden. Überhaupt zeigte er sich auch sehr skeptisch bezüglich der Ereignisse seit Berchtesgaden. Der Sepp befürchtet nämlich, dass allzu viel von draußen diktiert werde. Übrigens wundert mich die Regierungsumbildung nicht so sehr. Wichtiger erscheint mir die Generalamnestie. Wird man den Freigelassenen jetzt trauen dürfen? Sollen die Wühlmäuse nunmehr so mir nichts, dir nichts gleichberechtigt sein? Man wirft ihnen quasi die Freundschaft an den Hals, versorgt sie womöglich mit guten Posten, um ihnen zu zeigen, dass man es ehrlich meint, und speist diejenigen, die seit eh und ja bei der Stange waren, mit schönen Worten ab. Manchmal will die Bitterkeit in mir aufsteigen. 20. Februar. Hitlers Rede. Besuch bei Neumann. Die Ansprache brachte nicht viel Neues. Zunächst die alte Leier, dass die Regierung vor der Machtübernahme eigentlich nicht viel andres gekonnt hätte, als die Partei quälen. Bezeichnend waren auch die Ausfälle gegen die „faulenzenden“Bibelausleger. 24. Februar. Marsch zum Schwarzenbergplatz. Vom Rennweg her kamen die Simmeringer Arbeiter, ihre Sprechchöre: „Wir wollen keine Häring vom Göring“, „Wir wollen nicht ein Eintopfgericht“. Die Kanzlerrede konnte man sehr gut verstehen. Wenn sie durch Beifallskundgebungen unterbrochen wurde, stimmten auch die Jungvolk-Leute ein. Ein einziges Mal versuchte aber auch eine Gruppe Unentwegter „Ein Volk, ein Reich!“zu schreien. Die Leute wurden aber schnell abgedrängt. Die Wirkung dieser Störung war aber die, dass bei dem anschließenden Umzug der Versammlungsteilnehmer auch der Ruf „Nieder mit den Austronazi!“ausgestoßen wurde. Als diese Parole auch vor dem Haus der Front erscholl, zogen sich die auf dem Balkon stehenden Persönlichkeiten zurück und kamen erst wieder, als andere Rufe ertönten. Gewissen Herrschaften soll nicht die Möglichkeit geboten werden, unserem Kanzler der Zweideutigkeit zu zeihen. Deshalb war auch mir das „Nieder!“-Geschrei nicht zusagend. Freilich bei „Rotweiß-rot bis zum Tod!“, „Heil Schuschnigg!“usw. tat ich wacker mit, sodass ich daheim fast heiser war. Übrigens, die Rede Schuschniggs stand haushoch über den Ausführungen Hitlers.
5. März. Ich tummelte mich heim, um noch die Rede Minister Seyß-Inquarts zu hören, die dieser im Redoutensaal an die Vertrauensleute der oberösterreichischen Narzissen (der Ausdruck Nazi muss ja jetzt geadelt werden!) hielt. Na, hoffentlich, hoffentlich, gelingt es uns, dass wir endlich zusammenfinden. 11. März. 22.15 Uhr: Vor mir habe ich das Kirchenblatt liegen. Der Text auf der Titelseite ist Math. 26, 36-45. „Mein Vater . . . so geschehe Dein Wille!“Jetzt, da alles um mich herum ruhig ist, da fühlt man, was einem verloren ist. Wahrhaftig, ein Idealbild zerbricht in mir. Noch Mittwoch [9. März] war ich zuversichtlich. Ich hoffte, der Herrgott wird uns nicht verlassen. Derselbe Herrgott, zu dem auch andere beten. Die – wenn sie auch auf dem parteipolitisch genommen anderen Ufer stehen – ihn noch nicht verkennen. Und gerade diese Tatsache muss mich vor einem Zweifel an der Vorsehung bewahren. Freilich, nicht nur ein Ideal zerfällt in mir. Die reale Seite tut mir furchtbar wehe. Jetzt stand ich doch davor, Mutter doch endlich einmal aus dieser Zwangsjacke des Geschäftslebens hier bei uns zu befreien. Ich denke auch an das Mädi, mit dem ich über kurz oder lang eine Familie gründen möch- te. Bei wem werde ich unter den gegenwärtigen Verhältnissen Unterstützung finden? Herrgott, da musst Du mir helfen. Schade, dass ich Schuschniggs Abdankungsworte nicht gehört habe. Ich habe davon erst im Hof der Bezirksführung der Vaterländischen Front gehört. Unser Kanzler hat sich der Gewalt gebeugt, um Blutvergießen zu vermeiden. Gott sei Dank, dass auch die Bezirksführung die gleiche Vernunft gehabt hatte und die anwesenden Leute heimschickte. Etliche wollten Waffen haben. Was hätte ihre Anwendung unter den gegenwärtigen Umständen genützt? Nichts! Ein Trost bleibt mir in dieser Zeit des Umbruches: Man wird auch die Kraft des Besiegten brauchen können! Minieren – nach unseligem Vorbilde – werde ich nicht. 12. März. Man muss ja wirklich dem Herrgott danken, dass die Umwälzung so unblutig vor sich ging. Dies war wirklich zum allergrößten Teil auf die Massenbegeisterung zurückzuführen. Es muss zugegeben werden, dass der Einzug des Führers von der großen Mehrheit der Bevölkerung gewünscht wurde. Und nach dem Rücktritt Schuschniggs und der Auflösung der Vaterländischen Front darf es auch bei mir keine Hemmungen geben. 14. März. Am Tage des Einzuges des Führers in Wien, das seit Sonntag die zweitgrößte Stadt Großdeutschlands ist, sah ich recht schäbig aus. Unrasiert, im Geschäftsgewand, so ging ich am Abend zu Orbes. Ich wollte dem Mädi nur den soeben fertig konzipierten Brief lesen lassen. Freilich, man darf nicht innerlich zur Umstellung bereit sein und äußerlich doch noch abseits stehen! Übrigens, Herr Turbinsky (Legitimist) und Herr Günzinger (Gewerkschaftler) sind verhaftet worden; es sind eben die negativen Seiten des Umbruches. Einen Schatten werfen die eigenmächtigen Requirierungen auf die Ereignisse der jüngsten Tage. Das ist oder wird bald eingestellt. Natürlich, die Lösung der Judenfrage auf diese Art, wie sie jetzt geschieht, hätte im kleinen Österreich niemals durchgeführt werden können. Im Reichsverband stehen wir ja nicht mehr so auf den Export an, wie dies bisher unbedingt notwendig war. Ein Boykott von draußen schadet daher nicht mehr so sehr. 15. März. Am Nachmittag Brief an Prof. Srbik aufgegeben; wie viel Hoffnungen liegen doch da drinnen! Gleichzeitig habe ich einen eingeschriebenen Brief an die Bezirksführung der NSDAP abgeschickt. Kurz und bündig – der neuen Zeit entsprechend – habe ich um meine Aufnahme angesucht. Ich weiß aber gegenwärtig noch gar nicht, ob überhaupt eine solche jetzt möglich ist. 16. März. [Brief.] Zunächst ein herzliches „Grüß Dich Gott“. Weißt, in diesen Worten sah und sehe ich mehr als eine bloße Grußformel. Du kennst mich ja zu gut, um zu wissen, dass ich immer gern in die Tiefe gehe. Gerade deswegen tat es mir sehr, sehr wehe, als ich von dem vernahm, was am vergangenen Freitag geschah. Die Mutter konnte nicht weiter essen, das Mädi kam ganz verweint. Als ich dann allein so wach dasaß, da war es gut, dass ich aus der Tiefe mei- nes Herzens Kraft herausholen konnte! Ich dachte mir eben, dass es so im Willen des Herrgotts bestimmt ist, und damit muss man sich abfinden. Aber man soll sich nicht nur passiv damit abfinden, sondern man muss auch bereit sein, aktiv am Aufbau einer neuen Zeit mitzuarbeiten, nachdem ein Ideal unwiederbringlich zerscherbt ward. Das ist der tiefste Sinn des Glaubens an ein absolut ewiges Wesen. Franzl, Du wirst begreifen, wenn ich Dir sage, dass ich bei keiner der Kundgebungen, die nunmehr die Wienerstadt durchbraust haben, war, denn ich kann nicht fast innerhalb einer Woche „Heil Schuschnigg!“und „Heil Hitler!“rufen, wie es viele wohl getan haben. Eines kann ich Dir aber vermelden: Ich habe den Ruf der Stunde verstanden. Mit dem blitzartig vollzogenen Anschluss hat sich etwas ereignet, das unverbrüchliche Schicksalsgemeinschaft zwischen Führer und Volk erfordert.
17. März. Der Emil war wieder da. Er ist noch immer ganz gebückt. Man muss schließlich auch an seine Brüder denken. Wird der Hans in der Sparkasse bleiben können, wird der Peter die Trafik behalten? Was wird mit dem Mann der Inge? Das sind lauter schwerwiegende Fragen. Auch
Qdiese Dinge machen es mir schwer, in die neue Bewegung hineinzuwachsen. Doch ich muss hindurch!!! 18. März. Brief an den Beauftragten des Führers (Mitarbeit bei der Volksbefragung). Abstecher nach St. Veit. Unterwegs geschah wieder etwas, was es mir leichter macht, mich umzustellen. Eigentlich, umgestellt habe ich mich ja schon. Aber das organische Hineinwachsen wurde durch einen Vorfall erleichtert. Ich ging da von der Haltestelle zur Hauptstraße St. Veits. Da begegneten mir drei „Pimpfe“, welche stramm daherkamen. Als sie sahen, dass ich das Turnerbundabzeichen trug (das ich übrigens noch von meiner Realschulzeit her hatte), grüßten die Buben wie auf ein Kommando durch Händeheben . . . und ich tat zum ersten Mal das gleiche. Hier lag kein Zwang vor . . . und das ist gut so. 27. März. Es ist halt doch noch nicht alles überwunden in mir. Man nimmt daher nur mit einem gewissen Widerwillen die Feder in die Hand. Treulosigkeit, Wortbruch, Volksverrat, das sind jetzt Worte, die in den Versammlungsreden Hochkonjunktur haben. Sind sie aber wirklich unbedingt nötig, um auch den letzten Mann zur Volksabstimmung zu holen? Hier ist also ein Dornengestrüpp, durch das ich hindurch muss!! Ich kann nicht verlangen, dass mir der Führer einen bequemen Weg zu ihm hin legt. Gestern habe ich einen Brief vom Amt des Beauftragten für die Volksabstimmung erhalten. Am gleichen Tage wurde mir auch eine Bescheinigung zugestellt, die mich als Hausvertrauensmann bestätigt. Die erste Aufgabe war, die Personalien der Arbeitslosen zu sammeln. 28. März. Montag früh – ich lag noch im Bett (Husten!) – war der Blockwart da: Aufnahme der Hausliste. Nach dem Aufstehen begann ich damit sofort; mittags wurde ich durch die Mutter darauf aufmerksam gemacht, dass ich gar nicht gefrühstückt habe. Abends: Hausvertrauensmännerversammlung. Zum ersten Male das Horst-Wessel-Lied mitgesungen. 29. März. Ablieferung der Hausliste. Abends Rede vom „Doktor“bei Orbes angehört. Die Martha war auch oben. Die Rede von Goebbels war eigentlich recht gut . . . nur zu lang. Wenn „Herr“Schuschnigg zitiert wurde, musste man natürlich wieder viel in Kauf nehmen. Aber das geht halt schon nicht anders. Das ist eben das Los der Unterlegenen. 30. März. Radioapparat gekauft. Endlich ein alter Wunsch von mir in Erfüllung gegangen. „Mein Kampf“und Ahnenpass aus der Bücherstube. 4. April. Die Wahlausweise für das Haus zum Austeilen erhalten. Wieder einmal war der Sprengelwart bei mir; für die Zeit vor der Wahl ist dieser Besuch nicht zu häufig! 5. April. Sprengelwart brachte den Auftrag zur Ausschmückung der Haustore mit. Langwierige Unterhandlungen mit dem Hausherrn. Foto vom Führer gekauft. Sein Lächeln soll Freude ins Haus bringen. 12. April. Die, welche heute die Früchte ihres Sieges mit Stolz pflücken, ahnen nicht, wie ich in der Systemzeit gelitten habe. Es wäre aber ehrlos, wenn ich mich als Renegat gebärde, wenn ich in den Chor der Schuschnigg-Verdammer einstimmen würde. Des Führers Bild steht nunmehr auf unserem Radioapparat. Ich habe jenes Foto gewählt, wo der Führer lächelt. Er freut sich ja wirklich, dass er seine Heimat heimholen hat können. Dass ihm dies ohne Blutvergießen gelungen, darüber kann auch ich mich aus vollem Herzen freuen. Dafür muss man auch dem Schicksal dankbar sein. Als Hausvertrauensmann habe ich ja wirklich alles drangesetzt, dass keine Stimme verlorengehe. Gestern nahm ich am Fackelzug teil. In Ottakring war wohl kaum ein größerer zu sehen gewesen. Freilich, mit einer Begeisterung bin ich nicht mitgegangen. Ich habe mich ja auch früher für derartige Kundgebungen fast nie erwärmt. Aufmarsch, Rede, all dies konnte mich aber nicht daran hindern, das Deutschlandlied und auch das Horst-Wessel-Lied mit Überzeugung zu singen.
Quelle: Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien. Seit 35 Jahren sammelt die „Doku“lebensgeschichtliche Aufzeichnungen, Tagebücher, Briefe et cetera. Bei Interesse erreichbar unter 01/4277-41306 oder per E-Mail unter lebensgeschichten@univie.ac.at.