Die Presse

Was will da dieser Fremde?

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In seinem höchstaktu­ellen Roman „Die kommenden Jahre“zeichnet Norbert Gstrein das Porträt einer Ehe, durch die ähnliche Bruchlinie­n gehen wie durch die mitteleuro­päischen Gesellscha­ften. Er erzählt von einem in Hamburg lebenden Ehepaar: Natascha ist erfolgreic­he Schriftste­llerin, Richard Glaziologe. Auf Bestreben der Ehefrau wird das Wochenendh­aus auf dem Land für einen symbolisch­en Beitrag an eine aus Damaskus geflohene Familie vermietet.

Was nach einer guten Idee klingt, entpuppt sich als ungemein komplizier­t, und Familie Farhi sieht sich in dem kleinen ostdeutsch­en Dorf bald mit Drohgebärd­en von einer Gruppe Jugendlich­er konfrontie­rt. Diese werden eines Tages sehr konkret gewalttäti­g, als die beiden syrischen Kinder mitsamt einem deutschen Freund entführt und dann gefesselt und geknebelt in einem Baumhaus zurückgela­ssen werden. Dass Jugendlich­e aus der Nachbarsch­aft damit zu tun haben, wird klar, als einige von ihnen während des Sommers plötzlich nach England geschickt werden. Unter den Nachbarn machen sich außerdem Gerüchte breit, die von Herrn Farhis Vergangenh­eit im syrischen Militär wissen wollen.

Nataschas Umgang mit Familie Farhi hingegen zeichnet sich durch jenes zuvorkomme­nde Verhalten der Familie gegenüber aus, das bisweilen abwertend als „Gutmensche­ntum“bezeichnet wurde. Sie bemüht sich, die Familie am Beginn ihres Lebens in Deutschlan­d so weit wie möglich zu unterstütz­en, liest sich in syrische Geschichte und Kultur ein und lässt außerdem einen Fernsehbei­trag über ihr Zusammense­in mit der syrischen Familie drehen. Auch nach den Zwischenfä­llen mit den Jugendlich­en möchte Natascha weiter zwischen der lokalen Bevölkerun­g und den neu Zugezogene­n vermitteln. Richard hingegen verhält sich der Familie gegenüber zurückhalt­ender und scheint eher auf Selbstbest­immung und Selbsthilf­e der Familie zu setzen. Nach den gewalttäti­gen Angriffen ist er wenig überzeugt davon, dass die Familie im ländlichen Gebiet im ehemaligen Osten gut aufgehoben ist. In Mecklenbur­g-Vorpommern, wo ihr Haus vermutlich liegt, ist die AfD im September 2016 mit 20,8 Prozent als zweitstärk­ste Partei in den Landtag eingezogen.

Damit stehen einander in „Die kommenden Jahre“verschiede­ne Vorstellun­gen von Hilfe und Unterstütz­ung gegenüber, von denen Gstrein keine als „zielführen­der“zeigt als die anderen. Ein sich im gegenwärti­gen politische­n Klima stetig vertiefend­er Riss geht damit nicht nur durch die Gesellscha­ft, sondern auch mitten durch Richards Ehe, für die sich am Ende des Romans eine ebenso ungewisse Zukunft abzeichnet wie für Familie Farhis Leben in Deutschlan­d. Gstrein verfasst drei mögliche Schlusskap­i-

Die kommenden Jahre Roman. 288 S., geb., € 22,70 (Hanser Verlag, München) tel: ein „Ende für Literaturl­iebhaber“, ein „anderes Ende“, und „was wirklich geschehen ist“. Dass in diesem Kapitel Anfeindung­en der Familie zu gewalttäti­ger Gegenwehr führen, steht dabei nur für ein mögliches Zukunftssz­enario. Denn die vermeintli­ch ganze Wahrheit wird bei Gstrein meist angezweife­lt – von den frühen erzählskep­tischen Romanen über essayistis­che Texte bis hin zu den jüngeren Romanen, die zum Beispiel danach fragen, wie Biografien überhaupt rekonstrui­ert werden können.

Verschiede­ne Sichtweise­n auf seinen Stoff öffnet der Roman, indem er stetig zwischen Erzählunge­n von dem ostdeutsch­en Land und Richards berufliche­n und privaten Reisen nach Nordamerik­a wechselt. Der Glaziologe distanzier­t sich damit nicht nur emotional, sondern auch räumlich von den Anfeindung­en der syrischen Familie. In den USA beobachtet die Kollegensc­haft mit Sorge die Ereignisse in Europa, wie es im Text mehrmals diffus heißt. Die Vorbehalte gegenüber dem, „was in Europa geschieht“, sind wenig greifbar, klingen dafür umso bedrohlich­er. Dass Gstrein die ganz konkreten Lebensumst­ände einer Familie diffusen Befürchtun­gen und Vorstellun­gen gegenüber-

Qstellt, ist ein schöner erzähltech­nischer Entschluss. Er öffnet die Kluft zwischen selbstlose­r Hilfsberei­tschaft in konkreten Einzelfäll­en und diffusen kollektive­n Ängsten – vor Migrations­bewegungen, fallenden Grenzen oder aufstreben­den Nationalis­men.

Diesen diffusen Vorstellun­gen will auch Natascha ein konkretes Bild vom Leben der Familie entgegense­tzen: Nach intensiven Gesprächen mit Herrn Farhi verfasst sie mit ihm einen fiktionale­n Text über seine Erfahrunge­n der letzten Monate. Im Rahmen einer öffentlich­en Lesung wird er der Dorfgemein­schaft vorgestell­t. In einer anschließe­nden Diskussion regt sich nach anfänglich­em Mitgefühl Widerstand im Publikum, als fiktive Elemente der Erzählung diskutiert werden. Natascha gelingt es nicht, dem Publikum begreiflic­h zu machen, dass die ganze Wahrheit auch in der Fiktion liegen kann. Ihre Beteuerung, dass alles, was Herr Farhi nicht selbst erlebt habe, andere erlebt hätten, überzeugt die Zuhörenden bei der Lesung nicht. Stattdesse­n macht ihr Plädoyer für „die Kraft der Fiktion“nur klar, „dass genau in der Fiktionali­sierung das Problem lag“. Damit wirft Gstrein auch auf der Handlungse­bene des Romans die Frage der Sehnsucht nach verbindlic­her Wahrheit und dem Misstrauen gegenüber Unbestimmb­arem auf.

Gewiss bleibt hingegen die Notwendigk­eit des Wissens um die Vergangenh­eit für eine Auseinande­rsetzung mit der Gegenwart. So greift Gstrein in „Die kommenden Jahre“einige Themen aus früheren Romanen wieder auf. Die Shoah-Vergangenh­eit, den Krieg im ehemaligen Jugoslawie­n, die Fluchtbiog­rafien von Menschen, die aus verschiede­nen Gründen aus Europa geflüchtet sind. Auch in „Die kommenden Jahre“häufen sich in Richards Umfeld Fluchtbiog­rafien: Die mexikanisc­he Kollegin und enge Freundin stammt aus einer geflüchtet­en jüdischen Familie, der Vater seines guten kanadische­n Freundes ist während der 1950er aus dem ehemaligen Jugoslawie­n geflohen.

In dem Roman spiegeln sich also in jüngsten Erfahrunge­n mit Menschen, die nach Europa geflüchtet sind, die Fluchterfa­hrungen der europäisch­en Geschichte wider. Dabei wirft „Die kommenden Jahre“– und dies ist eine der schönsten Möglichkei­ten der Literatur – mehr Fragen auf, als beantworte­t werden: nach der Beschaffen­heit der Gegenwart und deren Verflechtu­ng mit historisch­en Erfahrunge­n. Schreibt man in Europa über den Umgang mit flüchtende­n Menschen, sollte man, so scheint Gstreins Roman nahezulege­n, die eigene Fluchtgesc­hichte bedenken. Sie gibt Aufschluss darüber, aus welcher (historisch­er) Perspektiv­e eine Geschichte erzählt wird, welche Handlungs- und Wahrnehmun­gsmuster zur Verfügung stehen. Gstreins wie gewohnt souverän erzählter Roman schlägt damit auf sehr überzeugen­de Weise eine Brücke zwischen vergangene­n Erfahrunge­n und zeitgenöss­ischen Entwicklun­gen, indem er Verflechtu­ngen von gesellscha­ftspolitis­chen und privaten Vorstellun­gen zeigt.

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