Du Opfer!
Svenja Goltermann ist Geschichtsprofessorin an der Universität in Zürich. Dieser Umstand verdient besondere Erwähnung, weil wir es bei ihrem Buch über „Opfer“mit einem kulturwissenschaftlichen Werk zu tun haben, das zwei auszeichnende Merkmale vereint: Zum einen ist das Buch auch für Laien lesbar, ja sogar ein Lesegenuss. Das mag angesichts des Themas frivol klingen, ist aber als Kompliment an Stil und Ausdrucksweise der Autorin gemeint, die ganz und gar unspektakulär über Ungeheuerlichkeiten berichtet, die fassungslos machen. Zum anderen jedoch ist Goltermanns Buch ein Musterbeispiel an Gelehrtheit und Sachkundigkeit. Dafür spricht der Anhang, der 90 von insgesamt 330 Seiten einnimmt.
Goltermanns Ziel der Recherche wird im Untertitel nicht ganz klar ausgesprochen: „Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne“. Der Fokus ihrer Untersuchungen und Annahmen ist nämlich enger, aber deswegen keineswegs weniger bedeutungsvoll. Es geht um die Wahrnehmung der Opfer vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. In früheren Zeiten, als Millionen Soldaten auf dem Schlachtfeld ihr Leben ließen, nahm man kaum Notiz vom Individuum. Es war die Masse der langsam Verrottenden, die in Massengräbern verscharrt wurden oder einfach liegen blieben, den Tieren zum Fraß. Das Schauspiel der Millionen und Abermillionen, die in den beiden Weltkriegen dahingemetzelt werden, zeigt bei aller Brutalität ein neu erwachsendes Sensorium der Gesellschaft. Man beginnt, sich um das einzelne Opfer zu kümmern, legt Vermisstenlisten an, schafft Soldatenfriedhöfe mit den Namen der Toten. Man erkennt das Recht der Hinterbliebenen an zu wissen, was mit den Männern, den zivilen Opfern geschehen ist.
Goltermann untersucht diesen „Humanisierungsschubs“in allen Aspekten. Sie will uns darüber unterrichten, in welchem Umfang der Opferbegriff kulturellen Konventionen unterliegt, sie zeigt auch die begrifflichen und moralischen Untiefen, in die man beim Befassen mit tatsächlichen oder angemaßten Opfern gerät. Nicht umsonst zeigt das Titelbild eine Gruppe sogenannter Kindersoldaten. Das sind Jugendliche, die meist von radikalen Gruppen entführt, versklavt, indoktriniert und dann zu Kämpfern mit Macheten, Gewehren, Maschinenpistolen ausgebildet wurden. Es sind schreckliche Verbrechen, die von solch zerstörten Seelen begangen werden, oft ist ein unbändiger Sadismus mit im Spiel.
Und doch: Die fast noch kindlichen Mörder – sie sind auch Opfer! Und ihnen gebührt, wenn irgend möglich, die Chance, dass sie sich wieder in einigermaßen normale Menschenwesen mit einigermaßen normalen Gefühlen verwandeln dürfen. In solchen Reaktionen zeigt die Umwelt, in welchem Ausmaß sie zu einer humanitären Ethik im menschlichen Zwielicht fähig ist. Goltermann breitet das Opferspektrum weiter aus. Ein Schwerpunkt gebührt dem Phänomen der Resilienz. Das bedeutet, dass Menschen sich widerständig zeigen, was die Übernahme einer Opferrolle betrifft. Militärische Schulungsprogramme legen es darauf an, Soldaten zu trainieren, in Situationen, in denen sie Opfer sind, etwa während einer Folterung, der Opferrolle zu widerstehen, um den Feind zu demoralisieren und selbstbestimmt zu bleiben.
Dasselbe Phänomen lässt sich in der Offensive von Schwulen, Lesben und Transsexuellen beobachten. Merkt die Öffentlichkeit erst, dass das Opfer verweigert, eines zu sein, läuft scheinheiliges Mitleid, Gutmenschenpaternalismus ins Leere. Allerdings kann sich die Forderung, resilient zu sein, auch gegen das Opfer wenden, wenn dieses verdächtigt wird, zu seinem Unglück selbst beigetragen zu haben, etwa zwecks Erringung von Vorteilen. Am Schluss wird dann
Qwomöglich jenen, die um gleiche Rechte oder gleichen Lohn kämpfen, vorgehalten, „sie verhielten sich ,wie Opfer‘“.
Goltermanns Überlegungen zeigen indessen auch, dass Opferansprüche zu einer Beweislastumkehr für vermeintliche Täter führen können, die deshalb leicht erpressbar werden. Man braucht nicht lang nachzuforschen, um festzustellen, dass es im Rahmen der Antisexismusbewegung sowie der Political-Correctness-Hysterie Heerscharen von „moralischen Unternehmern“gibt (nach einem Ausdruck des Soziologen Howard S. Becker), die aus verschiedensten Gründen nicht nur Partei für die Opfer irgendwelcher Übergriffe nehmen. Diese Aktivisten halten sogar aktiv Ausschau nach potenziellen Opfergruppen, welche sie dann entsprechend „instruieren“. Wer eigentlich waren in den amerikanischen Prohibitionsjahren die Opfer: die suchtgefährdeten Konsumenten „geistiger Getränke“, deren Familien oder jene Puritaner, die schon der Gedanke an den Genuss von Alkohol psychisch belastete? Dieselbe Frage ließe sich – abgesehen vom medizinischen Aspekt – dem Antiraucherfeldzug stellen.
Wenn ich ein Desideratum bei Goltermann zu bemängeln hätte, dann ist es das Fehlen der mittlerweile üppig gedeihenden Kultur des „Public Crying“. Denn das von den Massenmedien beflügelte Trauern, um Lady Di oder um die Opfer von Terroranschlägen, hat einen Opfertypus erzeugt, der gesamtgesellschaftlich nicht unproblematisch scheint. Bei der „Prinzessin der Herzen“ging es um einen relativ harmlosen Gefühlskult, der in der Yellow Press und einer gefühlskalten Monarchie Täter sehen wollte. Der Traueransturm im Fall des islamistischen Terrors führte aber zu einer kollektiven Stimmung, die sich politisch ausbeuten lässt, um bürgerliche Freiheitsräume immer stärker einzuschränken.
Diese Bemerkungen ändern nichts daran, dass Goltermanns Buch auch eines belegt: Die gelegentliche Rede von der Überflüssigkeit kulturwissenschaftlichen Räsonierens ist eine Dummheit. Gute Bücher gibt es da und dort. Diese Plattitüde scheint mir in diesem Fall angebracht. Denn Goltermanns Buch ist für alle dringend zu empfehlen, ob sie Opfer sind, Helfer oder sich für das Thema „bloß“interessieren – und nicht zuletzt wäre es den passionierten Tätern zu empfehlen, die aber gewöhnlich Wichtigeres zu tun haben, als über ihre Schandtaten zu reflektieren, es sei denn, sie hießen Marquis de Sade. Und da würde man sich doch wünschen, dass derartige Monster nicht auch noch zu Literaturlegenden werden.