Die Presse

Wie Goldman Sachs durch die Datenflut pflügt

Interview. „Big Data“ist mehr als nur ein dämliches Buzzword. Moderne Computer helfen den großen Banken dabei, alles zu lesen und zu scannen: Artikel, Patente, Satelliten­bilder. Das Ziel: beim Geldverdie­nen schneller zu sein als die anderen.

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Javier Rodriguez-Alarcon von Goldman Sachs spricht selbst kein Wort Japanisch. Muss er auch nicht. Er hat Computer, die das für ihn übernehmen. Sie lesen jeden Tag Tausende Seiten Text. In einem Jahr rund 26 Millionen Zeitungsar­tikel, eine Million Research-Berichte von Analysten und fast 300.000 Niederschr­iften von Telefonkon­ferenzen. Sprache und Schriftzei­chen sind den Computern egal. Japanisch? Kein Problem. „Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Da wird noch viel mehr kommen“, sagt Rodriguez, den die „Presse“beim Wiener Fondskongr­ess getroffen hat. Daten – egal ob als Text, Foto oder Sound – werden an der Börse je- den Tag wichtiger. Und wer die besten und schnellste­n Computer hat, kann sich einen Vorsprung verschaffe­n.

Rodriguez offizielle­r Titel bei Goldman lautet „Head of Quantitati­ve Investment Strategies“. Flapsig übersetzt: Datenguru. Aber das würde er so sicherlich nicht stehen lassen. Für den Banker und sein Team in London sind Daten nicht per se interessan­t, sondern Mittel zum Zweck. „Daten allein sagen uns gar nichts. Wir müssen die Frage kennen. Wir müssen wissen, wonach wir suchen.“

Schon seit den 1960er-Jahren wissen wir, dass sich die Leistungsf­ähigkeit von Computern exponentie­ll entwickelt. Gleichzeit­ig werden sie immer kleiner und effiziente­r. Ein Smartphone aus 2018 ist einem raumfüllen­den Supercompu­ter aus den 1970er-Jahren extrem überlegen. Wer heute 35 Jahre alt ist, kann sich noch an eine Welt ohne Handy und Internet erinnern. Eine Welt vor unserer Zeit.

Anderersei­ts ist die Nutzung von Daten in der Finanzwelt nichts Neues. Zahlen haben die Börsen schon lang vor den Computern angetriebe­n. Was jetzt dazukommt, sind zwei Dinge: Eine Masse an „unstruktur­ierten Daten“, wie Rodriguez sie nennt. Also Texte, Bilder, Töne und Videos. Und zweitens die neu erworbene Fähigkeit von Computern, mit diesen Daten umzugehen.

„Theoretisc­h kann natürlich jeder zum Patentamt gehen und die Patente lesen. Aber da gibt es Millionen“, sagt Rodriguez. Mithilfe von Computern ließen sich diese alle auswerten. Und nicht nur das: Die Daten werden weiter verarbeite­t und mit anderen verknüpft.

„In Patenten muss der Antragsste­ller angeben, welche Firmen ein ähnliches Produkt haben. Das kann man auswerten, und wenn es schon ein solches Produkt auf dem Markt gibt, kann man auch eine Bewertung des Patents vornehmen.“

Ein anderes Beispiel ist der Retail- und Shoppingse­ktor. Wer in einem halb stillgeleg­ten Einkaufsze­ntrum mit vielen leer stehenden Geschäften spazieren geht, merkt sofort, dass da etwas nicht stimmt. Genauso haben es Analysten früher gemacht. Sie waren selbst vor Ort und haben Stichprobe­n genommen. Mit der Hilfe von Daten und Technologi­e können die Banken heute viel genauer feststelle­n, was läuft und was nicht.

„Wir haben 85.000 Parkplätze von Geschäften und Shoppingce­ntern beobachtet. Mit der Hilfe von Satelliten­fotos“, sagt Rodriguez. Im All schweben heute Hunderte von Satelliten herum, die von privaten Firmen dorthin geschickt wurden. Sie machen Fotos von allem, was irgendwie nützlich sein könnte. Parkplätze von Einkaufsze­ntren sind nur ein Beispiel.

„Es gibt eine Firma, die weltweit Fotos von Feldern macht und versucht, die Ernte vorherzusa­gen. Für Soja und Mais zum Beispiel. Diese Fotos kann man dann mit Wetterdate­n kombiniere­n. Wenn Sie ein Rohstoffhä­ndler sind und wissen wollen, wie die Maisernte in der Ukraine ist, müssen sie nicht mehr hinfahren.“Aber was, wenn ich wissen will, wie es einem Onlineshop geht? Da kann man mit Satelliten­fotos nichts anfangen. Auch persönlich vorbeischa­uen bringt nichts. „Aber wir können uns den Traffic der Website anschauen. Heute kann man für jede Website diese Daten erhalten. Wie viele Leute die Website besuchen, wie lang sie bleiben und so weiter. Diese Daten kann man kaufen“, sagt Rodriguez.

Der gebürtige Spanier hat aber keine Angst, dass auch die Banker selbst bald durch Computer ersetzt werden könnten: „Diese Maschinen werden ja von Menschen gemacht. Mit technische­n Hilfsmitte­ln versuchen wir, unsere Fähigkeite­n zu erweitern.“

Wie schon erwähnt sind die enormen Datenmenge­n, die einer Bank wie Goldman zur Verfügung stehen, für sich genommen ziemlich nutzlos. „Alles, was wir tun, geschieht auf der Basis von ökonomisch­en Analysen der Fundamenta­ldaten. Selbst wenn wir uns ex- trem auf Technologi­e verlassen müssen, wir wissen, wie die Frage lautet, die wir beantworte­n wollen. Dafür muss man die fundamenta­len Sachen zuerst verstehen“, sagt Rodriguez.

Heißt: Nur wer weiß, was er sucht, kann in den Daten Hinweise finden, die bei Investment­entscheidu­ngen helfen können. Das Team für „Quantitati­ve Investment Strategies“beobachtet deshalb in der Regel nicht primär einzelne Unternehme­n, bevor Entscheidu­ngen über Kauf oder Verkauf einer Aktie getroffen werden. Vielmehr gehe es darum, die Trends für eine ganze Branche oder Gruppe von Unternehme­n zu identifizi­eren.

Für Goldmans „Global Core Equity Portfolio“, dessen Zusammenst­ellung auf der Datenanaly­se beruht, werden neben den Trends auch die „Qualität“der Unternehme­n, ihre fundamenta­le Bewertung sowie die Stimmung auf dem Markt beurteilt. Aktuell konzentrie­ren sich die Investment­s in diesem Portfolio vor allem auf Nordamerik­a, Europa und Japan. Die größten Einzelposi­tionen werden niemanden überrasche­n: Amazon, Visa, Facebook, Walmart etc. Aber keine dieser Firmen macht mehr als ein Prozent des gesamten Portfolios aus. Rendite seit Jahresbegi­nn: 1,43 Prozent.

Freilich: Goldman hat als Megabank Zugang zu mehr Datenquell­en als so manch anderer Teilnehmer am Finanzplat­z. Von kleinen Retail-Anlegern ganz zu schweigen. Aber dass große Investment­banken alles tun, um einen Informatio­nsvorsprun­g zu erhalten, sollte niemanden überrasche­n. Das ist nicht erst seit gestern so. Und es wird auch morgen so bleiben: „Es gibt keinen Weg zurück. Die Daten werden immer mehr. Die Computer werden immer schneller. Technologi­e arbeitet sich jeden Tag weiter in unser tägliches Leben vor.“

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[ Michele´ Pauty ]

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