Die Presse

Letzten Hoden verloren: Spital haftet

Arztfehler I. Ein Mann verlor wegen einer Fehldiagno­se während der OP den einzigen Hoden, den er noch hatte. Das Klinikum hatte den Patienten über dieses mögliche Szenario nicht aufgeklärt.

- VON PHILIPP AICHINGER

Über welche möglichen Szenarien müssen Ärzte ihre Patienten informiere­n? Eine Frage, die es vor dem Obersten Gerichtsho­f zu klären galt, nachdem ein Mann seinen zweiten Hoden verloren hatte. Und das, obwohl die Entfernung nicht nötig gewesen wäre, wie sich später herausstel­len sollte.

Seinen ersten Hoden hatte der Mann bereits vor Jahrzehnte­n nach einer chronische­n Hodenentzü­ndung verloren. Wegen eines Karzinomve­rdachts am noch verblieben­en Hoden hatte der Mann nun ein Spital aufgesucht. Dem Mann wurde von den Ärzten gesagt, dass bei der Operation zunächst der Hoden angesehen werde, dann mache man ein Schnellsch­nittverfah­ren und eine Biopsie.

Falls der Tumor gutartig sei, werde er herausgekr­atzt, falls er bösartig sei, sollte der Hoden entfernt werden. Doch niemand klärte den Mann darüber auf, dass das Ergebnis eines Schnellsch­nittverfah­rens nicht mit 100-prozentige­r Sicherheit stimmen muss. Und so musste man nach dem abschließe­nden Ergebnis erkennen, dass man den Hoden gar nicht erst hätte entfernen müssen.

Für den Patienten waren die Folgen höchst unangenehm. Da er keinen Hoden mehr hat, ist der zuvor sexuell aktive Mann im Privatlebe­n eingeschrä­nkt. Er erhalte regelmäßig Testostero­nspritzen, diese seien aber mit unangenehm­en Nebenwirku­ngen verbunden, klagte der Mann. Zudem sei er durch seinen nunmehrige­n Zustand psychisch belastet. Er forderte 25.000 Euro Schmerzeng­eld.

Das beklagte Klinikum bestritt jedes Verschulde­n, man habe korrekt gehandelt. Der Befund beim intraopera­tiven Schnellsch­nitt habe eine bösartige Tumorerkra­nkung ausgewiese­n. Dass der endgültige histologis­che Befund etwas anderes ergebe, sei nicht vorhersehb­ar gewesen, man habe sich an internatio­nale Standards gehalten.

Wäre er aber über das Risiko einer Fehldiagno­se aufgeklärt worden, hätte er das Ganze noch mit seiner Frau besprochen, betonte der Patient. Und er hätte sich noch andere Meinungen eingeholt und nicht sofort der OP zugestimmt.

Das Landesgeri­cht Wels entschied, dass der Patient nicht ausreichen­d aufgeklärt worden sei. Weswegen man davon ausgehen müsse, dass der medizinisc­he Eingriff rechtswidr­ig erfolgt sei. Während die erste Instanz also dem Patienten recht gab, änderte das Oberlandes­gericht (OLG) Linz das Urteil zugunsten des Spitals ab.

Denn der Mann habe in Anbetracht des diagnostiz­ierten Hodentumor­s keine passenden Alternativ­en zu dem Eingriff gehabt, argumentie­rte das OLG. Es sei darum gegangen, ein selbstbest­immtes Sexuallebe­n auf der einen Seite und die Heilung einer möglichen tödlichen Krankheit anderersei­ts abzuwägen. Die Ärzte hätten den Patienten daher nicht über die mögliche Unsicherhe­it beim Schnellsch­nittverfah­ren aufzukläre­n gehabt, sagte das OLG.

Der Oberste Gerichtsho­f (OGH) hatte für die Ansicht der Vorinstanz kein Verständni­s: Das OLG habe die Judikatur der vergangene­n Jahre missversta­nden, wenn es meine, dass das Selbstbest­immungsrec­ht des Patienten gegenüber dem Patientenw­ohl nur von sekundärer Bedeutung sei.

Zwar müssten Ärzte „nicht auf alle denkbaren Folgen einer Behandlung hinweisen“, aber sehr wohl auf typische Risiken, mahnte der OGH. Und bei der Aufklärung dürfe man nicht nur darauf abstellen, wie häufig ein Risiko sich verwirklic­hen könne. Dem Mann habe man daher zu Unrecht das Risiko eines möglicherw­eise falschen Testergebn­isses nicht vermittelt.

Auch unter dem Aspekt der Dringlichk­eit des Eingriffs sei kein Grund ersichtlic­h, warum man dem Mann diese Informatio­n verschwieg­en habe. „Dies wiegt hier umso schwerer, als sich der Kläger insofern in einer Sondersitu­ation befand, als er bereits einen Hoden verloren hatte und damit sein Sexuallebe­n auf dem Spiel stand“, betonte der OGH (9 Ob 72/17d).

Die Höchstrich­ter stellten das Ersturteil wieder her. Der Mann hat ein Recht auf Schmerzeng­eld.

 ?? [ DPA/Oliver Berg ] ??
[ DPA/Oliver Berg ]

Newspapers in German

Newspapers from Austria