Letzten Hoden verloren: Spital haftet
Arztfehler I. Ein Mann verlor wegen einer Fehldiagnose während der OP den einzigen Hoden, den er noch hatte. Das Klinikum hatte den Patienten über dieses mögliche Szenario nicht aufgeklärt.
Über welche möglichen Szenarien müssen Ärzte ihre Patienten informieren? Eine Frage, die es vor dem Obersten Gerichtshof zu klären galt, nachdem ein Mann seinen zweiten Hoden verloren hatte. Und das, obwohl die Entfernung nicht nötig gewesen wäre, wie sich später herausstellen sollte.
Seinen ersten Hoden hatte der Mann bereits vor Jahrzehnten nach einer chronischen Hodenentzündung verloren. Wegen eines Karzinomverdachts am noch verbliebenen Hoden hatte der Mann nun ein Spital aufgesucht. Dem Mann wurde von den Ärzten gesagt, dass bei der Operation zunächst der Hoden angesehen werde, dann mache man ein Schnellschnittverfahren und eine Biopsie.
Falls der Tumor gutartig sei, werde er herausgekratzt, falls er bösartig sei, sollte der Hoden entfernt werden. Doch niemand klärte den Mann darüber auf, dass das Ergebnis eines Schnellschnittverfahrens nicht mit 100-prozentiger Sicherheit stimmen muss. Und so musste man nach dem abschließenden Ergebnis erkennen, dass man den Hoden gar nicht erst hätte entfernen müssen.
Für den Patienten waren die Folgen höchst unangenehm. Da er keinen Hoden mehr hat, ist der zuvor sexuell aktive Mann im Privatleben eingeschränkt. Er erhalte regelmäßig Testosteronspritzen, diese seien aber mit unangenehmen Nebenwirkungen verbunden, klagte der Mann. Zudem sei er durch seinen nunmehrigen Zustand psychisch belastet. Er forderte 25.000 Euro Schmerzengeld.
Das beklagte Klinikum bestritt jedes Verschulden, man habe korrekt gehandelt. Der Befund beim intraoperativen Schnellschnitt habe eine bösartige Tumorerkrankung ausgewiesen. Dass der endgültige histologische Befund etwas anderes ergebe, sei nicht vorhersehbar gewesen, man habe sich an internationale Standards gehalten.
Wäre er aber über das Risiko einer Fehldiagnose aufgeklärt worden, hätte er das Ganze noch mit seiner Frau besprochen, betonte der Patient. Und er hätte sich noch andere Meinungen eingeholt und nicht sofort der OP zugestimmt.
Das Landesgericht Wels entschied, dass der Patient nicht ausreichend aufgeklärt worden sei. Weswegen man davon ausgehen müsse, dass der medizinische Eingriff rechtswidrig erfolgt sei. Während die erste Instanz also dem Patienten recht gab, änderte das Oberlandesgericht (OLG) Linz das Urteil zugunsten des Spitals ab.
Denn der Mann habe in Anbetracht des diagnostizierten Hodentumors keine passenden Alternativen zu dem Eingriff gehabt, argumentierte das OLG. Es sei darum gegangen, ein selbstbestimmtes Sexualleben auf der einen Seite und die Heilung einer möglichen tödlichen Krankheit andererseits abzuwägen. Die Ärzte hätten den Patienten daher nicht über die mögliche Unsicherheit beim Schnellschnittverfahren aufzuklären gehabt, sagte das OLG.
Der Oberste Gerichtshof (OGH) hatte für die Ansicht der Vorinstanz kein Verständnis: Das OLG habe die Judikatur der vergangenen Jahre missverstanden, wenn es meine, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gegenüber dem Patientenwohl nur von sekundärer Bedeutung sei.
Zwar müssten Ärzte „nicht auf alle denkbaren Folgen einer Behandlung hinweisen“, aber sehr wohl auf typische Risiken, mahnte der OGH. Und bei der Aufklärung dürfe man nicht nur darauf abstellen, wie häufig ein Risiko sich verwirklichen könne. Dem Mann habe man daher zu Unrecht das Risiko eines möglicherweise falschen Testergebnisses nicht vermittelt.
Auch unter dem Aspekt der Dringlichkeit des Eingriffs sei kein Grund ersichtlich, warum man dem Mann diese Information verschwiegen habe. „Dies wiegt hier umso schwerer, als sich der Kläger insofern in einer Sondersituation befand, als er bereits einen Hoden verloren hatte und damit sein Sexualleben auf dem Spiel stand“, betonte der OGH (9 Ob 72/17d).
Die Höchstrichter stellten das Ersturteil wieder her. Der Mann hat ein Recht auf Schmerzengeld.