Analogbilder
Kürzlich
fällt mir ein Schwarz-Weiß-Bild in die Hände. Es zeigt sieben Männer, vier sitzen auf Stühlen, drei stehen dahinter, im nahen Hintergrund sind Bäume zu sehen. Das Gras wächst kniehoch. Die Männer tragen Anzüge, Krawatte, üppige Schnauzer, einer, der steht, hat eine Zigarette zwischen den Lippen. Es müssen die späten 1960er sein, vielleicht ein paar Jahre später. Das Bild zeigt türkische Männer, die sich für die Aufnahme herausgeputzt haben, an einem Sonn- oder Feiertag, denn unter der Woche war ihre Bekleidung eine ganz andere. Sie waren Minenarbeiter in Belgien. Auf anderen Fotos, entstanden irgendwo zwischen Erdoberfläche und unter Tage, sind ihre Gesichter derart schwarz, dass sie kaum zu erkennen sind. Da tragen sie Helm, Taschenlampe, Stiefel und dicke Handschuhe. Nach Hause, in die Türkei, wurden diese Minenbilder freilich nie geschickt, sondern nur die im Sommergras. Erzählungen darüber gibt es zuhauf: Die ehemaligen „Gastarbeiter“wollten ihren Familien zeigen, dass es ihnen gut geht, dass sie es gut haben. Von der harten Arbeitsrealität sollten sie so wenig wie möglich wissen.
Es ist gar nicht so lange her, dass Analogbilder wie diese räumlich getrennten Familien und Freunden Trost und Vertrautheit boten. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es von meiner Kindheit mehr Fotos quer verstreut über die Türkei gibt als zu Hause. Ich habe sie über die Jahre sukzessive entdeckt, in den Alben der Tanten und Onkel: Ich im Kindergarten mit Plüschtier, ich am Bodensee, ich im Bodensee. Mit der Erfindung des Smartphones haben wir dieses fotografische Ungleichgewicht zumindest theoretisch wieder aufgehoben, denn die Tanten und Onkel lieben das schnelle Verschicken von (gestellten!) Aufnahmen. Wenn die Cousins das Bild gemacht haben, dann sind alle bis zur Unkenntlichkeit gefiltert, wenn es die Älteren waren, dann fehlt gern ein Teil des Kopfes, ein Arm, zwei Tanten sind nur halb drauf, und die, die ganz zu sehen sind, kenne ich nicht. In Istanbul sage ich zum Onkel: „Ihr könnt alle nicht fotografieren. Komm, wir machen ein Selfie!“, und der Onkel antwortet: „Was? Wer ist Selfiye?“