Österreichs März-Irritation
Wäre es richtig gewesen, im März 1938 gegen Hitlers Truppen das Bundesheer einzusetzen und den Schießbefehl zu erteilen?
In der „Schachnovelle“von Stefan Zweig erzählt der Wiener Rechtsanwalt Dr. B., dass er sich als Folge monatelanger NSEinzelhaft Verletzungen zugefügt hat und ins Spital eingeliefert wurde. Der wohlgesinnte Arzt diagnostizierte: „Eine akute Irritation der Nerven; schließlich eine recht verständliche . . . Seit dem 13. März, nicht wahr?“Während am 13. März 1938 erste Verhaftungen erfolgten, feierte Hitler seinen „Blumensieg“in Linz. Zwei Tage später zeigte er sich auf dem Wiener Heldenplatz und versuchte, vergessen zu machen, dass die Österreicher vier Jahre zuvor genau dort eine eindrucksvolle Demonstration für ein freies und unabhängiges Österreich abgeliefert hatten. Zuletzt hat Manfried Rauchensteiner in seinem Buch „Unter Beobachtung“darauf hingewiesen, dass sich am 8. August 1934 mehr Menschen auf dem Heldenplatz versammelt haben dürften als am 15. März 1938. Anlass war im 34er- Jahr die Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß.
Dass Österreich tatsächlich der Gewalt wich, wie es der DollfußNachfolger, Kurt Schuschnigg, in seiner letzten Radioansprache ausdrückte, bestätigte auch Winston Churchill in seinem Werk über den Zweiten Weltkrieg. Unter der Kapitelüberschrift „Die Vergewaltigung Österreichs“beschreibt er die seinerzeitigen Ereignisse, die in weiten Teilen des Auslands als bloß „innerdeutscher Familienkonflikt“abgetan worden sind.
Eine solche Interpretation ist jedoch ebenso verfehlt wie das Akzeptieren der NS-Propagandalüge von einem jubelnden Staat Österreich. Eine quasidemokratische Legitimation des Nationalsozialismus hat es nie gegeben und darf es auch ex post nicht geben.
Mit der militärischen Besetzung und dem sogenannten Anschluss ging das Völkerrechtssubjekt Österreich unter. Wer daher von einer Mitschuld Österreichs an den NS-Verbrechen oder am Zweiten Weltkrieg spricht, verkennt nicht nur die Rechtslage, sondern auch den fünfjährigen Widerstand der Republik. Dieser Widerstand fand mit dem Ein- marsch der Wehrmacht, ausgelöst durch Anberaumung einer Volksabstimmung für ein unabhängiges Österreich, ein jähes Ende. Dem in sich gespaltenen Österreich sollte unter der Losung „Lieber Schuschnigg als Hitler“keine Chance gegeben werden.
Richtigerweise kann nur von einer Schuld einzelner – selbstredend viel zu vieler – Österreicher gesprochen werden. Daraus aber eine Kollektivschuld der Republik abzuleiten wäre irreführend.
Die Debatte um Kollektivschuld lenkt in Wahrheit von einer Kernfrage ab, die in Österreich praktisch nie gestellt wird: Wäre es richtig gewesen, im März 1938 das Bundesheer einzusetzen und einen Schießbefehl zu erteilen? So entkommt man der Frage nach dem gerechten (Verteidigungs-) Krieg. Die guten Österreicher scheinen den damaligen Ereignissen mit einem schlechten Gewissen auszuweichen – und auch diese Irritationen der Nerven wird so verständlich. Seit dem 13. März, nicht wahr?