Verlorene russische Schätze
Musikverein. Unter Valery Gergiev stellten Münchens Philharmoniker Igor Strawinskys verloren geglaubtes Frühwerk „Begräbnislied“vor.
Das ist der Stoff, aus dem moderne Märchen gemacht sind: Orchesterstimmen seines verschollenen Frühwerks „Begräbnislied“könnten sich, so behauptete Igor Strawinsky, in einer Bibliothek in St. Petersburg erhalten haben. „Ich wünschte, dass irgendjemand in Leningrad dieses Material suchen würde“, schrieb er in seinen späten Memoiren.
Erst eine durch Renovierungsarbeiten notwendig gewordene komplette Übersiedelung des Musikbestandes der Bibliothek des Rimskij-Korsakow-Konservatoriums ließ 2015 die 58 gut erhaltenen Orchesterstimmen ihren Weg zur Musikwissenschaftlerin Natalja Braginskaja finden, die zuvor die Bestände unermüdlich durchforstet hatte.
Das „Begräbnislied“verfasste der 26-jährige Strawinsky im Gedenken an seinen 1908 verstorbenen Lehrer Nikolai Rimskij-Korsakow. „Alle Soloinstrumente des Orchesters sollten mit ihren Melodien am Grab des Meisters in einer Abfolge vorbei- ziehen, jedes von ihnen gleichsam einen Kranz niederlegend“, beschreibt er später. Tatsächlich stellen sich die einzelnen Instrumentengruppen vor, stufenweise baut sich die Spannung bis hin zum Tutti der Streicher auf. Ein anfänglich fast tonloses Schaben über die Saiten verdichtet sich zu zitternden chromatischen Bewegungen.
Mehr als ein Jahrhundert sollte bis zur zweiten Aufführung am 2. Dezember 2016 unter Valery Gergiev vergehen. Zu Recht titelt man damals von der Wiedergeburt eines Meisterwerkes, denn das Begräbnislied dokumentiert den Beginn der raschen kompositorischen Entwicklung Strawinskys über den „Feuervogel“und „Petruschka“bis hin zu „Le Sacre du Printemps“. Die direkte Gegenüberstellung mit Letzterem erwies, dass Strawinskys Musik offenbar bis heute nichts von ihrer Sprengkraft verloren hat: Nach der im ersten Teil hervorragend musizierten Siebenten Beethovens veranlasste „Sacre“trotz klar modelliertem Fagottsolo nicht wenige Zuhörer zum verfrühten Aufbruch.