Die Presse

EuGH: Doppelbest­rafung in bestimmten Fällen möglich

EuGH-Urteil. Niemand darf wegen derselben Straftat mehrfach bestraft werden. Nun relativier­en die Luxemburge­r Richter diesen Grundsatz.

- VON JUDITH HECHT

„Ne bis in idem“: „Niemand darf wegen derselben Straftat zweimal strafrecht­lich verfolgt oder bestraft werden“– dieser zentrale Rechtsgrun­dsatz findet sich nicht nur in der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion (EMRK), sondern auch in der Charta der Grundrecht­e der Europäisch­en Union (Artikel 50 der GRC).

Nun aber hat der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) in einem aktuellen Urteil (C-524/15; C-537/16; C-596/16; C-597/16) festgehalt­en, dass es zum Schutz der finanziell­en Interessen der Europäisch­en Union und ihrer Finanzmärk­te Einschränk­ungen dieses Doppelbest­rafungsver­bots geben kann.

Ausgangspu­nkt dieser bemerkensw­erten Entscheidu­ng waren vier Fälle aus Italien, in denen der EuGH zu prüfen hatte, ob gegen ein und dieselbe Person gleichzeit­ig strafrecht­liche und verwaltung­srechtlich­e Sanktionen wegen derselben Tat verhängt werden dürfen. „Ja“befanden die Luxemburge­r Richter, allerdings nur dann, wenn die nationale Rege- lung, welche die „Ne bis in idem“Ausnahme vorsieht, vier Voraussetz­ungen erfüllt: Erstens muss sie eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzun­g haben, die eine solche Kumulierun­g der Strafen rechtferti­gen kann. Die nationale Regelung muss zum Zweiten klare und präzise Regeln aufstellen, die es den Bürgern ermöglicht, vorherzuse­hen, bei welchen Handlungen und Unterlassu­ngen eine doppelte Bestrafung infrage kommt.

In so einem Gesetz muss drittens sichergest­ellt sein, dass die Verfahren untereinan­der koordinier­t werden, damit die Belastunge­n, die mit einer Doppelbest­rafung verbunden sind, für den Betroffene­n auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Zu guter Letzt muss eine solche Regelung gewährleis­ten, dass die verhängten Sanktionen im Verhältnis zur Schwere der Straftat auf das zwingend erforderli­che Maß beschränkt werden.

Der EuGH sah diese vier Voraussetz­ungen allerdings nicht in allen der vier vorgelegte­n Anlassfäll­e als erfüllt an. So fand er, dass bei einer Regelung zur Ahndung der Marktmanip­ulation der Grundsatz der Verhältnis­mäßigkeit gerade nicht gewahrt worden sei. Diese italienisc­he Regelung sieht nämlich vor, dass es zulässig ist, ein Verwaltung­sstrafverf­ahren durchzufüh­ren, selbst wenn die Sache bereits Gegenstand einer strafrecht­lichen Verurteilu­ng gewesen ist. Hier sei die strafrecht­liche Sanktion selbst schon geeignet, die Straftat „wirksam, verhältnis­mäßig und abschrecke­nd zu ahnden“.

Und noch etwas stellte der Europäisch­e Gerichtsho­f klar: Gibt es einen rechtskräf­tigen Freispruch, in dem festgestel­lt wird, dass keine Straftat vorliegt, wäre die Verhängung einer Geldbuße in einem Verwaltung­sstrafverf­ahren mit dem Grundsatz „Ne bis in idem“unvereinba­r. Das Ziel, die Integrität der Finanzmärk­te der EU und das Vertrauen der Öffentlich­keit in die Finanzinst­rumente gelte zu schützen, solle zwar verfolgt werden, aber eben doch nicht um jeden Preis.

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