Die Avantgarde wollte keine Grenzen kennen
Unteres Belvedere. Schon die Secessionisten wollten keine nationale Kunst schaffen, sondern die gesamte Menschheit retten. Die Ausstellung „Klimt ist nicht das Ende“ist ein Epos auf die völkerverbindende Kunst der Donaumonarchie.
Womit wir uns heute so gern brüsten, was vor uns zu liegen scheint wie ein nationaler Schatz, das Kulturland Österreich, die „Wiener Moderne“– es beruht auf einem Missverständnis. Dieses stellt sich schnell ein, wenn man in Zeitschriften wie dem Zentralorgan der Wiener Secessionisten rund um Klimt, dem „Ver Sacrum“, blättert, und dort liest: Sie forderten eine „österreichische“Kunst. Das aber war nicht national gemeint, sonst hätte man damals, in der Zeit des durch Karl Lueger und Georg von Schönerer auflodernden Antisemitismus, eine „deutsche“Kunst gefordert.
Denn Avantgarde wollte immer schon international sein. Und „österreichisch“stand für den Spirit des Vielvölkerstaates, der damals schon angezählt war. Dieser Moment des Hochdrucks in der internationalen Metropole Wiens um 1900 brachte, kurz vor der Explosion, diesen ungeheuren künstlerischen Willen zur Weltverbesserung durch Schönheit und Qualität, wofür Klimt, Josef Hoffmann, Kolo Moser, aber auch noch der junge Egon Schiele standen. 1918 starben mit Klimt, Moser, Schiele und Hoffmanns Lehrer Otto Wagner die wichtigsten Protagonisten dieser Bewegung.
Mythos Mitteleuropa
Eine große, epochale, ja vielleicht auch einmal eine häuserübergreifende Ausstellung zu diesem einmaligen Jubiläum a` la „Traum und Wirklichkeit“von 1985 blieb aus. Das einzige Haus, das sich neben einer PostWagner-Schau im MAK und unzähligen monografischen Ausstellungen zu einer These aufschwingt, ist das Belvedere. Indem man, was auf den ersten Blick fast pietätlos anmutet, Klimt und seinen Mitstreitern auch noch ins Grab nachruft: „Klimt ist nicht das Ende“– so der schwer populistische Ausstellungstitel. Denn es hätte besser geheißen: Klimt war der Anfang! Illustriert doch gerade er mit seiner „österreichischen“Kunst prächtig das Lieblingsthema von Kurator Alexander Klee, nämlich die Enttarnung nationaler Mythenbildungen in der Kunstgeschichte. Das wäre ein würdiger Grundgedanke gewesen für eine umfassende Jubiläumsausstellung. Hätte man dem Ausgangspunkt, Klimt und der Secession, doch ein wenig mehr Beachtung geschenkt. So ist es jedenfalls eine Österreichs EU-Präsidentschaft diplomatisch wunderhübsch begleitende Wanderausstellung geworden, im Herbst auch im Brüsseler Bozar-Museum zu sehen.
Völlig unvorbereitet wird man mitten ins Getümmel der ungewerteten künstlerischen Gleichzeitigkeiten der Donaumonarchie des Jahres 1918 geworfen: Links die spätimpressionistischen Historienschinken des ungarischen Klimt-Zeitgenossen Jozsef´ Rippl-Ro-´ nai, rechts „slawischer“Jugendstil von Alfons Mucha, dahinter die abstrakte, auf donaumonarchischem Geometrieunterricht beruhende „Formkunst“des deutschen Adolf Hölzel, flankiert von Bildern wie von einem anderen Stern, den fantastisch-sachlich-futuristischen Visionen des Pragers Jan Zrzavy.´
Man hätte doch wenigstens diesen ersten Raum den beiden überragenden Genies von Klimt und Schiele widmen können, deren in ihrem Sterbejahr unvollendet gebliebene Werke fast lieblos im multinationalen Kanon hängen. Klimt steigt noch ein bisschen besser aus, hinterlässt mit den drei ne- beneinander hängenden, einen aus irgendwie denselben Augen anblickenden Frauenbildnissen der Amalie Zuckerkandl, der Johanna Staude und der Eva (hinter der ein fast Schielesker Adam steht) einen starken Eindruck. Durch das Unvollendete, Brüchige wirkt Klimt für unsere Augen fast zeitgenössisch, jedenfalls merkt man seine Hinwendung zur Expression der Jüngeren, die er förderte, Schiele und Oskar Kokoschka.
Letzterer wird einen als einziger mit unverkennbarem Pinselstrich begleiten durch diese hier erst ansetzende Ausstellung – durch den ersten Weltkrieg bis zum Beginn des zweiten, auf dem Weg durch Europa, von Wien nach Prag, ins englische Exil. Es ist eine nahezu monströse Gesamtschau, die versucht, Künstler aus allen ehemaligen Teilen der Monarchie mit gleichem Respekt zu behandeln, die mit Namen um sich wirft, die kaum je einer alle gehört, geschweige denn gesehen hat. Die in diesem sehr sympathischen Eifer, alle gleichermaßen zu umarmen, vergisst, ihnen vorher auch gebührend in die Augen zu sehen. Es ist unmöglich, anhand von einzelnen Bildern Künstler, die nicht geläufig sind, in Qualität und Bedeutung einzuschätzen. Durch den (aus Platzgründen nötigen) Verzicht darauf, einzelne Städte und ihre Kunstinstitutionen vorzustellen und dadurch vergleichbar zu machen, kann man nur vermuten, dass viele dieser Künstler durch Wien als Zentrum der Information und Ausbildung gegangen sind.
Die narzisstische Kränkung
Was Künstler hier fühlten, nachdem der Vielvölkerstaat zerstört war, zeigt der Raum „Psychogramme“: Mit Anton Hanaks kolossaler Statue des „Letzten Menschen“, der das Gleichgewicht zu verlieren scheint, mit Fritz Schwarz-Waldeggs Gemälde „Bekenntnis“, in dem er sich die Brust aufreißt. Otto Neuraths Piktogramm fasst die Kränkung des von Anton Kolig und Alfred Wickenburg in ihren Bildern beschworenen „Narzissmus“des Restland Österreichs nüchtern zusammen: In der Illustration zu „Mächte der Erde“(1930) ist Österreich nicht einmal mehr als halbes Maxerl dargestellt, sondern muss sich die Hälfte noch mit der Schweiz teilen.
Rasant schreitet Kurator Klee weiter durch Länder und Kunstszenen, deren Kommunikation untereinander durch Kunstzeitschriften funktionierte, von denen es rund 50 gab in der Zwischenkriegszeit. Kriegsmalerei, Expressionismus, Surrealismus, Neue Realismen, überall neue Namen. Eine sichere Insel bietet das Bauhaus, das, wie Klee wichtig ist zu betonen, keine „deutsche“Errungenschaft war, sondern vorwiegend von Künstlern aus der ehemaligen Donaumonarchie betrieben wurde wie Friedl Dicker-Brandeis oder Laszl´a´ Moholy-Nagy.
Ein letztes Mal hat auch Wien noch die Avantgarde versammelt: Bei der Internationalen Theaterausstellung, die Friedrich Kiesler 1924 im Konzerthaus veranstaltete. Da waren sie alle noch einmal da. Bevor Prag künstlerisch seine große Stunde hatte, als hierher flüchtete, wer am Beginn der Nazizeit noch nicht weg war, Kokoschka, John Heartfield, Dicker-Brandeis; sie sollte es nicht mehr viel weiter schaffen. Es herrschte das Grauen. Danach war viele Jahre lang nur noch künstlerische Provinz. Und das zumindest ist kein Mythos.