Leitartikel von Oliver Grimm: „EU zwischen Trump, Putin und Xi: Rüsten für stürmische Zeiten“
EU-Gipfel. Frankreichs Präsident möchte, dass die Union in Sachen Innovation vom Pentagon und Silicon Valley lernt.
Brüssel. Um welche politische Frage in Europa es sich auch handelt: Immer wieder kommt man auf die Rede Emmanuel Macrons an der Pariser Sorbonne zurück. „Ich schlage vor, dass wir im Laufe der nächsten zwei Jahre eine europäische Agentur für disruptive Innovation schaffen, nach dem Vorbild der Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa) in den Vereinigten Staaten während der Eroberung des Weltalls. Das muss unser Bestreben sein“, sagte Frankreichs Staatspräsident am 26. September vorigen Jahres.
Dieser 1958 im Wettrennen mit der UdSSR gegründete Forschungsarm des Pentagons mit rund 220 Mitarbeitern und einem Jahresetat von umgerechnet knapp drei Milliarden Euro hat unter anderem bahnbrechende Fortschritte bei der Entwicklung des Internets, von Computerchips, dem Navigationssystem GPS oder Tarnkappenkampfflugzeugen ermöglicht. Macron, der mit einem ikonoklastischen Elan das moribunde französische politische System gesprengt und das höchste Amt im Staate erlangt hat, hat einen gleichgearteten Blick auf die Wirtschaft, das Arbeitsleben und die Veränderungen, denen sie unterworfen sind. Seit er an Europäischen Räten teilnimmt, wird er nicht müde, die Notwendigkeit zu predigen, Europa für die rasanten ökonomischen und sozialen Revolutionen das nötige Rüstzeug zu geben.
Das scheint erste zarte Früchte zu tragen. Auf Betreiben Frankreichs wurde im letzten Moment vor Beginn des Gipfeltreffens am Donnerstag ein Absatz eingefügt, der die Notwendigkeit der Schaffung eines „digitalen Europa“festhält. Das ist in erster Linie den jüngsten Enthüllungen über den Datenmissbrauch bei Facebook (siehe Seite 4) geschuldet, heißt es doch in dem Text, den „Die Presse“einsehen konnte: „Soziale Netzwerke und digitale Plattformen müssen transparente Praktiken und den vollen Schutz der Privatsphäre und der privaten Daten der Bürger garantieren.“
Politische Weichen sind gestellt
Doch darüber hinaus hat Macron auch die grundsätzliche, wenn auch noch sehr allgemeine politische Zustimmung seiner europäischen Amtskollegen zur Schaffung einer Innovationsagentur erreicht. Beim Eintreffen im Brüsseler Ratsgebäude erklärte Macron seine Zufriedenheit darüber, „ehrgeizige Schlussfolgerungen zur Schaffung eines Fonds für radikale Innovation in Europa“in dem Text der gemeinsamen Schlusserklärung der 28 Staats- und Regierungschefs festgeschrieben zu haben.
Fürs Erste mag das nach wenig klingen. Doch die politischen Weichen für die Schaf- fung einer Euro-Darpa sind schon gestellt. Forschungskommissar Carlos Moedas erklärte bereits kurz nach Macrons Rede an der Sorbonne, dass dessen Vorschlag sich in einem neuen Forschungspilotprojekt verwirklichen ließe, nämlich dem Europäischen Innovationsrat. Der bündelt für vorerst drei Jahre vier Programme aus dem Horizon-2020-Forschungsbudget der Union und ist mit 2,7 Milliarden Euro dotiert.
Beim informellen Europäischen Ratstreffen am 17. Mai in Sofia wollen sich die Chefs dieser und anderen Fragen der Digitalpolitik zuwenden. Zu klären wird sein, ob Macrons Disruptionsagentur eine eigene EU-Agentur werden soll oder vorerst ein zwischenstaatliches Projekt besonders interessierter Regierungen. Zudem ist es nicht so einfach, Erfolgsrezepte aus den USA formgleich nach Europa zu übertragen. Die Neuerungen, welche in Darpa erfunden wurden, waren dank einer sehr hohen Toleranz gegenüber Fehlschlägen möglich. In Europa ist man wesentlich risikoscheuer – vor allem im Zusammenhang mit allem, was aus Steuergeld finanziert wird.
Macrons Mathegenie
Doch der junge Präsident ist entschlossen, seinem Land und auch Europa eine Dosis Risikobereitschaft zu impfen. Schon nächste Woche dürfte sein dafür auserkorener Vertreter, Ce-´ dric Villani, in Paris eine Strategie zur Erforschung und Förderung der künstlichen Intelligenz präsentieren. Villani ist einer der begabtesten Mathematiker unserer Zeit, im Jahr 2010 erhielt er die Fields-Medaille, die landläufig als Nobelpreis für Mathematiker umschrieben wird. Er bemüht sich darum, den Datenschutz mit der Notwendigkeit zu vereinen, anonymisierte Daten europaweit analysierbar zu machen.
Der Gründergeist der Start-up-Szene, wie man sie aus dem kalifornischen Silicon Valley kennt, soll nach Macrons Vorstellungen ganz Europa erfassen. Frankreich kann hier eine Vorreiterrolle spielen. In Paris befindet sich seit Juni vorigen Jahres mit der Station F in einem alten Gebäude der französischen Staatsbahnen der weltgrößte Campus für junge Firmengründer.
Macrons Vision stehen auf europäischer Ebene allerdings einige Hürden im Weg. In Fragen der Grundlagenforschung arbeitet man zwar länderübergreifend zusammen. Doch je näher eine Neuerung an ihre Marktreife rückt, desto größer werden die einzelstaatlichen Begehrlichkeiten, eigene nationale Champions hoch zu subventionieren. Frankreich hat für diese Unsitte in der Vergangenheit zahlreiche Beispiel geliefert – man denke etwa an den innovativen, aber ausschließlich in Frankreich funktionierenden und deshalb letztlich untergegangenen Onlinedienst Minitel.
Wir haben ehrgeizige Schlussfolgerungen zur Schaffung eines Fonds für radikale Innovation.“Macron vor dem EU-Gipfel