Fehler im System
Systemfehler. Ob bei der Finanzierung, der freien Arztwahl oder dem Kassensystem – das österreichische Gesundheitswesen weist eine Reihe von Mängeln auf. Die Abwanderung junger Ärzte ist eine Folge davon.
Von der Finanzierung bis zur freien Arztwahl: Das Gesundheitswesen krankt an vielen Stellen.
Die Entwicklung ist ernüchternd. Mittlerweile geht jeder zweite Absolvent eines Medizinstudiums ins Ausland. Nach Deutschland etwa. Oder in die Schweiz. Auch Großbritannien und skandinavische Länder sind für junge Ärzte attraktiver als Österreich. Dieser Trend ist das Resultat einer Reihe von Systemfehlern, die Medizinern ebenso wie Patienten das Leben schwer machen.
1 Die unfaire und unzeitgemäße Finanzierung der Spitäler sowie der niedergelassenen Ärzte
Das größte Problem ist die unzeitgemäße, unfaire und zum strukturellen Missbrauch verleitende Finanzierung des Systems. Ein so ineffektives Modell gibt es in Europa sonst nur in Griechenland, alle anderen Länder haben die Zeichen der Zeit erkannt und die verschiedenen Töpfe (in Österreich: Länder, Bund, Kassen) mehr oder weniger zusammengelegt.
Bei einer Finanzierung aus nur einem Topf hätten die Kassen kein Interesse daran, ihre Patienten in die Spitäler auszulagern, weil diese durch die Länder mitfinanziert werden. Und die Länder wiederum müssten sie nicht in den niedergelassenen Bereich drängen, der von den Kassen finanziert wird. Die Zusammenlegung der Geldtöpfe für Spitäler, niedergelassene Ärzte, Reha, Pflege und Hospiz würde die Effizienz erhöhen und viel Konfliktpotenzial aus dem System nehmen.
2 Das – historisch gewachsene – aufgeblasene und komplizierte Kassensystem
Wie ist zu erklären, dass ein einfaches EKG (Elektrokardiogramm) in jedem Bundesland unterschiedlich honoriert wird? Für die glei- che Untersuchung bekommt ein Arzt in Wien von der Gebietskrankenkasse eine andere Summe als beispielsweise einer in Tirol oder der Steiermark, weil dort besser oder schlechter verhandelt wurde. Wiederum andere Beträge zahlen die weiteren Versicherungen (Bauern, Beamte etc.).
Das ist ungerecht und verursacht nur Bürokratie. 21 Versicherungsträger in einem Acht-Millionen-Einwohner-Land sind um 20 zu viel. Was implizit auch von den Verantwortlichen so gesehen wird, lautet die Begründung für die sehr hohe Zahl an Versicherungen doch immer gleich: Sie sei historisch gewachsen. Pläne für umfassende Reformen gibt es schon lang, umgesetzt hat sie aber noch keine Regierung.
3 Die massive Fehlleitung der Patientenströme durch die freie Arztwahl
Auf die freie Arztwahl ist man in Österreich seit jeher stolz, aber sie hat auch Schattenseiten und müsste eingeschränkt werden. Pro Quartal eine Facharztordination aufsuchen zu dürfen und dafür nicht einmal eine Überweisung zu benötigen ist ein Auslaufmodell und hat dazu geführt, dass Allgemeinmediziner an Bedeutung verloren haben und Spitalsambulanzen chronisch überlastet sind.
Denn zu viele Patienten meiden Hausärzte und gehen direkt ins Krankenhaus – zum einen, weil sie keine raschen Ter-
mine bei Fachärzten bekommen, und zum anderen, weil sie von diesen in die Spitäler überwiesen werden, da sie viele Behandlungen wegen der sehr strengen Fachabgrenzung in Österreich nicht durchführen dürfen. Skandinavische Länder haben dieses Problem erkannt. In Norwegen beispielsweise gibt es de facto keine niedergelassenen Fachärzte mehr, sie sind nur in Spitälern zu finden. Dafür wurden praktische Ärzte aufgewertet, sie dürfen und können auch viel mehr als ihre Kollegen in Österreich. In ein Spital kommen letztlich nur die Patienten, die dort hingehören und von ihren Hausärzten überwiesen wurden.
4 Die im Europa-Vergleich mangelhafte Ausbildung der Turnusärzte
Die Turnusausbildung (insbesondere im urbanen Raum) gehört seit Jahrzehnten zu den schlechtesten in Europa und ist der am häufigsten genannte Grund für das Auswandern von Medizinabsolventen. In einer Ärztekammer-Umfrage gaben 37,2 Prozent der Turnusärzte an, nach der Absolvierung einer Abteilung typische Krankheitsbilder nicht oder nur zu einem kleinen Teil richtig zu erkennen. In Wien würde jeder dritte Arzt laut einer OGM-Befragung nach den Erfahrungen, die er während seiner Turnuszeit gemacht hat, nicht wieder Medizin studieren.
Das Hauptproblem sind die fehlenden Ressourcen, die eine qualitätsvolle Ausbil- dung sicherstellen könnten – beispielsweise mit einem Mentoring-System. Zwar haben auch in Österreich Turnus- und Assistenzärzte Fach- bzw. Oberärzte als Ausbildner, diese haben aber im Alltag kaum Zeit dafür und nehmen Jungärzte häufig als Belastung wahr. Funktionieren kann dieses System nur, wenn die Mentoren für die Ausbildung freigestellt werden.
Ein weiteres Problem: Turnusärzte werden zu oft für Tätigkeiten wie Blut abnehmen, Infusionen anhängen und Blutdruck messen eingesetzt, die in anderen europäischen Ländern fast zur Gänze vom Pflegepersonal übernommen werden.
5 Der antiquierte Honorierungskatalog der Versicherungen
Der Honorierungskatalog der Gebietskrankenkasse stammt aus den 1960er-Jahren und ist im Wesentlichen so ausgerichtet, dass sich eine Ordination vor allem dann rechnet, wenn so viele Patienten wie möglich so schnell wie möglich behandelt werden – und dabei möglichst viele technische Geräte zum Einsatz kommen.
So bekommt etwa ein Kardiologe nur zwölf Euro, wenn er sich eine halbe Stunde lang mit einem Patienten unterhält. Führt er hingegen in 15 Minuten eine Ultraschalluntersuchung durch, verdient er etwa das Zehnfache. Wenig überraschend also, dass er die Gespräche kurz hält.