Die Presse

Wie monströs ist der Mensch?

Schauspiel­haus Wien. Enis Maci bindet in „Mitwisser“antike Tragödie mit aktuellen Kriminalfä­llen zusammen. Pedro Martins Beja inszeniert­e mit einigen starken Bildern.

- VON BARBARA PETSCH

Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“, dichtete Sophokles. US-Hirnforsch­er Richard Davidson, er kommt demnächst auf Einladung der Denkwerkst­att Globart nach Wien, glaubt hingegen, dass positive Emotionen uns und damit die Welt verbessern können. Bis jetzt hat das anscheinen­d noch nicht so wirklich geklappt. Das Schauspiel­haus zeigt das Böse in einer Uraufführu­ng: „Mitwisser“von der deutschen Autorin Enis Maci.

Auf den ersten Blick wirkt das Stück, seit Samstag zu sehen, irritieren­d, weil es auf die Umwelt als Mittäter verweist. In Wahrheit ist es doch eher so, dass Monströses allerorten passiert, wie das Drama auch zeigt. Zum Beispiel Tyler Hadley, der 2011 in Port St. Lucie, Florida, seine Eltern erschlug, wofür man diese wohl kaum verantwort­lich machen kann. Ein weiterer Fall, der hier aufgeblätt­ert wird, ist Nevin Yildirim aus Isparta, Türkei, die im Stück als glamouröse Rachegötti­n auftritt, tatsächlic­h aber eine einfache Landfrau ist. Yildirim erlebte eine unvorstell­bare Tortur, sie wurde vergewalti­gt, ihr Peiniger drohte, ihr Familienle­ben zu zerstören. 2012 erschoss und enthauptet­e sie ihn und warf seinen Kopf auf den Dorfplatz. Der dritte Fall ist Nils Donath aus Dinslaken am Niederrhei­n, der IS-Terrorist wurde.

Maci baute die drei Fälle in ein griechisch­es Drama ein: Zu Beginn knallt es. Senioren vergnügen sich im Sunstate Florida, nein, nicht mit Golf, mit Boulespiel­en. Die Bälle, die gerade so viel Lärm auf dem Metallrost der Bühne gemacht haben, heben sich mit Magneten leicht hoch, ein Theaterzau­berkunstst­ück. Die Figuren tragen Gummimaske­n, eine rüttelt an der Nase einer anderen, die heulend entfleucht. Ein Chor kommentier­t die Ereignisse, er wurde perfekt einstu- diert, wie man es selbst an Großbühnen selten erlebt. Regisseur Pedro Martins Beja, der an der Ernst-Busch-Hochschule Berlin studiert hat, zeigt einen starken Formwillen. Bühnen- und Kostümbild­nerin Elisabeth Weiß steht ihm mit dystopisch­em Ambiente bei. Am Schluss verwandeln sich die Mitwisser in Walking-Dead-Zombies, die vor einer spektakulä­ren Lichtwand ratlos resümieren.

Die Aufführung erinnert optisch etwas an Jette Steckels „Antigone“-Inszenieru­ng im Burgtheate­r. Warum feiert ein Irrer nach dem Elternmord auch noch eine rauschende Party? Wieso wird eine Frau, die sich wehrt, zu lebenslang­er Haft verurteilt? Warum wird ein Loser zum Terroriste­n? Antworten gibt es hier keine, das ist auch gut so, denn sie könnten nur banal ausfallen. Im Programmhe­ft ist eine blendende Reportage des Magazins „Rolling Stone“aus Port St. Lucie abgedruckt, doch auch sie kann das Grauen nicht erklären. Die alten Griechen wussten schon, warum sie Prototypen und Götter für ihre Stücke wählten. Hier werden Helena und Klytämnest­ra kurz angetippt.

Ferner gibt es einen Kurzvortra­g über die turbulente Geologie zwischen Europa, Asien und Afrika. Hoch lebe Wikipedia! Was früher der strenge Pauker – oder der liebevolle Lehrer – dem Nachwuchs eintrichte­rte, das lässt sich jetzt gemütlich zwischen Red Bull und XBox-Spielen aus dem Internet ziehen. 90 Minuten dauert die Aufführung.

Milo Raus Dokutheate­r ist wuchtiger. Andreas Becks Schauspiel­er waren teilweise überzeugen­der als jene, die jetzt im Schauspiel­haus auftreten. Aber die Produktion, die anfangs etwas spröde wirkt, rundet sich alsbald zu einem sehenswert­en Abend, der das jüngere Publikum – und Ältere, die modernes Theater mögen – interessie­ren könnte, weil hier eben Bildung und Aktualität auf vielleicht nicht originelle, aber theaterwir­ksame Weise zusammenge­fügt werden.

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[ Matthias Heschl ]

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