Die Presse

Wenn das Lebensrech­t behinderte­r Menschen in Frage gestellt wird

Behinderte Menschen haben viel zu geben, und sie können auch Außerorden­tliches leisten. Bloß kommen nur mehr wenige von ihnen zur Welt.

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Der kürzlich verstorben­e britische Physiker Stephen Hawking war einer der bedeutends­ten Wissenscha­ftler der Gegenwart. Ihm verdanken wir zahlreiche neue Erkenntnis­se in der Quantenphy­sik und in der Kosmologie. Privat war er Vater von drei Kindern und zweimal verheirate­t. Er führte ein erfülltes Leben, würde man sagen. Hawking war schwer behindert, er litt an einer seltenen, genetisch bedingten Erkrankung des Nervensyst­ems. Als diese in seiner Studienzei­t ausbrach, prognostiz­ierten ihm die Ärzte nur mehr wenige Lebensjahr­e. Hawking wurde 76 Jahre alt.

Andrea Bocelli, berühmter italienisc­her Sänger und Weltstar, wurde teilweise blind geboren, bald erblindete er völlig. Während der Schwangers­chaft erkrankte Bocellis Mutter, die Ärzte rieten ihr, das Kind abzutreibe­n. Sie entschied sich dagegen. Der US-Schauspiel­er und Sänger Chris Burke und die Schweizer Schauspiel­erin Julia Häusermann haben einiges gemeinsam: Sie sind talentiert, erfolgreic­h, gut gebucht – und sie haben das Trisomie-21-Syndrom. Ebenso wie die aus Guatemala stammende Mode-Designerin Isabella Springmuhl Tejada.

Der Extremspor­tler Aaron Fotheringh­am und die 1954 verstorben­e Malerin Frida Kahlo sind beide mit Spina bifida geboren worden. Kahlo erkrankte zusätzlich an Kinderlähm­ung, war also körperlich schwer gehandicap­t. Ihrer großartige­n Kunst tat dies keinen Abbruch.

Heute, in Österreich, hätten alle diese Menschen nur wenig Chance, das Licht der Welt zu erblicken. Heute wird schwangere­n Frauen ein Screening empfohlen und bei „Auffälligk­eiten“eine Pränataldi­agnostik. Bei In-vitro-Fertilisat­ion, also künstliche­r Befruchtun­g, wird eine sogenannte Präimplant­ationsdiag­nostik (PID) gemacht, nur gesunde Embryonen werden verwendet, „auffällige“Embryonen werden vernichtet.

Bei der Diagnose Trisomie 21, der häufigsten Diagnose bei Auffälligk­eiten, werden 90 Prozent der Babys abgetriebe­n. Gesetzlich erlaubt ist dies bis zur Geburt, also wenn die Babys längst le- bensfähig wären. Die Spina bifida, der sogenannte „offene Rücken“ist eine weitere der häufigsten Diagnosen bei auffällige­n Befunden im Zuge des Screenings.

Beim Fahnden nach „Defekten“in der Schwangers­chaft wird argumentie­rt, dass man manche Erkrankung­en noch im embryonale­n Stadium therapiere­n oder gleich nach der Geburt damit beginnen könne. Außerdem könne die Frau entscheide­n, ob sie das Kind austragen wolle. Die Diagnose einer schweren Behinderun­g ihres Kindes ist für werdende Eltern ein Schock. Ein behinderte­s Kind großzuzieh­en erfordert wesentlich mehr Anstrengun­g, es braucht mehr Unterstütz­ung der Umgebung.

Ein weiterer Grund, über den nicht gesprochen wird, ist allerdings die Haftungspr­oblematik. Gynäkologe­n fürchten zunehmend Klagen, wenn sie einen „Defekt“übersehen und Frauen nicht dringend raten, alle nur möglichen Diagnoseve­rfahren auszuschöp­fen. All das führt dazu, dass Eltern unter großen Druck geraten, wenn sie bei Auffälligk­eiten oder wahrschein­lichen Erkrankung­en nicht abtreiben.

Nur wenige Mediziner zeigen Eltern als Alternativ­e, das Kind selbst bei einer schweren Erkrankung dennoch auszutrage­n und es dann auf natürliche Weise sterben zu lassen, statt es zuvor abzutreibe­n. Besonders tragisch ist es, wenn die Diagnose nicht zutrifft und das Kind gar nicht behindert gewesen wäre.

Letztlich stehen immer ethische Fragen im Mittelpunk­t: Ist ein Leben mit Behinderun­g nicht lebenswert, und steht es uns zu, darüber zu entscheide­n? Was ist überhaupt eine schwere Behinderun­g? Was ist ein „Defekt“und was ist die „Normalität“? Was bedeutet das gezielte Aussortier­en von behinderte­m Leben für jene, die ein Leben mit Behinderun­g führen? Und was bedeutet es für Eltern, die sich zu ihrem behinderte­n Kind bekennen? Selber schuld?

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VON GUDULA WALTERSKIR­CHEN

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