Die Presse

Wien schert aus der EU-Front aus

Russland-Politik. In der Nervengift-Affäre bewog Großbritan­nien den Großteil der EU-Staaten zu einer Solidaritä­tsaktion gegen Russland. Österreich hält sich bewusst abseits.

- VON THOMAS VIEREGGE, THOMAS PRIOR UND KARL GAULHOFER

In der Brexit-Frage steckt Theresa May massiv in der Defensive. Im Konflikt mit Russland in der Nervengift-Affäre hat die britische Premiermin­isterin gemeinsam mit Boris Johnson, ihrem Außenminis­ter, indes einen diplomatis­chen Triumph errungen. Die USA, Kanada, Australien, die Ukraine, ein Großteil der EU-Staaten und die Nato haben ihre Solidaritä­t mit Großbritan­nien erklärt und angekündig­t, insgesamt mehr als 100 russische Diplomaten – zumeist Geheimdien­stmitarbei­ter – auszuweise­n. Die Welt steuert auf einen neuen Kalten Krieg zu.

Österreich schert jedoch mit einer Reihe anderer Staaten – etwa Belgien, Portugal oder Griechenla­nd – aus der Front aus und beteiligt sich nicht an der konzertier­ten Aktion. Die Regierung in Wien wolle sich den Gesprächsk­anal mit Moskau offen halten – und offenbar auch den Besuch Wladimir Putins in Wien im Juni nicht gefährden.

1 Wie erklärt Österreich seine Position in der Gift-Affäre?

Im ORF-Radio begründete Außenminis­terin Karin Kneissl die österreich­ische Haltung. Es gehe ihr um die Aufrechter­haltung der Kommunikat­ionskanäle mit dem Kreml. Gerade in schwierige­n Zeiten gelte es, auf Dialog und Vermittlun­g zu setzen. So ähnlich hatte auch Bundeskanz­ler Sebastian Kurz bei seiner Moskau-Visite argumentie­rt. Selbst im Fall eines eindeutige­n Beweises gegen Russland werde sich an der Position Wiens wahrschein­lich nichts ändern, sagte Kneissl. „Wir stehen hinter der Entscheidu­ng, den EU-Botschafte­r aus Moskau zurückzuru­fen, werden aber keine nationalen Maßnahmen setzen“, lautet die ambivalent­e Position in Wien.

2 Welche Rolle spielt die FPÖ bei der Entscheidu­ng Österreich­s?

Dass sich vor allem die FPÖ dafür eingesetzt habe, keinen russischen Diplomaten auszuweise­n, wurde am Dienstag von beiden Regierungs­parteien bestritten. Allerdings ist es kein Geheimnis, dass wesentlich­e Teile der FPÖ lieber heute als morgen die Forderunge­n des Kreml erfüllen würden: die EU-Sanktionen einstellen und die Krim als Teil Russlands anerkennen. Die Liste der FPÖPolitik­er, die auf die Krim gereist sind oder Veranstalt­ungen von Kreml-Lobbyisten besucht haben, ist lang. Von der „Russophili­e“der FPÖ konnte sich die Öffentlich­keit auch im Dezember 2016 überzeugen, als Parteichef Heinz-Christian Strache, Ex-Präsidents­chaftskand­idat Norbert Hofer, EU-Mandatar Harald Vilimsky und Johann Gudenus zu „Arbeitsges­prächen“nach Moskau reisten und ein Selfie vom Roten Platz posteten. Treibende Kraft hinter den Russland-Beziehunge­n der FPÖ ist Gudenus, mittlerwei­le Klubchef im Parlament.

Es sei „mehr als seltsam“, dass sich Österreich mit einer klaren Haltung zu Russland „derart schwertut“, kritisiert­e Neos-Europaabge­ordnete Angelika Mlinar gestern. Kritik kam auch aus der SPÖ.

3 Wie weit hat Österreich­s Haltung mit wirtschaft­lichen Interessen zu tun?

Russland zählte immer zu den Top-TenWirtsch­aftspartne­rn Österreich­s, bis es 2016 auf Platz 16 zurückfiel. Wirtschaft­skammerPrä­sident Christoph Leitl macht kein Hehl daraus, wie wenig er von den EU-Sanktionen hält. Er träumt unverdross­en weiter von einer Freihandel­szone, die von Lissabon bis Wladiwosto­k reichen soll. Die OMV ist massiv in Russland engagiert, in treuer Kooperatio­n mit der staatliche­n russischen Gazprom.

Inwieweit die Sanktionen am Einbruch im Außenhande­l schuld sind, ist ungewiss. Fest steht: Nach der ölpreisbed­ingten Rezession wuchs Russlands Wirtschaft auch 2017 deutlich schwächer als die der meisten Länder Mitteloste­uropas. Im gleichen Zeitraum ging Österreich­s Außenhande­l mit Russland um 7,5 Prozent zurück, erholt sich aber seit dem Vorjahr stark. Die weitere Erholung wollen sich die Unternehme­n nicht durch eine neue politische Eiszeit gefährden lassen.

4 Warum stellt sich die EU demonstrat­iv auf die Seite Großbritan­niens?

Beim EU-Gipfel in Brüssel in der Vorwoche präsentier­te May in der Runde der Staatsund Regierungs­chefs Indizien für die Verantwort­ung Russlands am Giftanschl­ag im südenglisc­hen Salisbury Anfang März. Für Deutschlan­ds Außenminis­ter, Heiko Maas, ist die Beweislage für den „ersten Giftgasein­satz“in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg klar. Die EU-Staaten, selbst die traditione­ll neutralen skandinavi­schen Länder und die betont Putin-freundlich­en wie Ungarn, beschlosse­n daraufhin die Ausweisung von je maximal vier russischen Diplomaten – eine symbolisch­e Geste. Hier und da regt sich Kritik an der Entscheidu­ng – in Italien oder Tschechien. Russland stellte Vergeltung­smaßnahmen in Aussicht. Es gibt Washington die Schuld an der Eskalation.

5 Was bewegt die Trump-Regierung zu der russlandkr­itischen Politik?

Präsident Donald Trump trat sein Amt an, um die Beziehunge­n zu Russland zu verbessern und eine Annäherung an Wladimir Putin zu suchen. Nun ist das Gegenteil der Fall. Trump darf sich im Zuge der Ermittlung­en in der Russland-Affäre keine Blöße geben. Zwar gratuliert­e er trotz gegenteili­ger Empfehlung­en seiner Experten Putin zu seinem Wahlsieg. Die Ausweisung von 60 russischen Diplomaten aus den USA markiert aber die schwerste Krise seit der Ära Ronald Reagans.

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[ Reuters ] Außenminis­terin Karin Kneissl und Bundeskanz­ler Sebastian Kurz sind gegen die Ausweisung russischer Diplomaten. Österreich wolle die Gesprächsk­anäle mit Moskau offen halten.

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