„Aggressor Russland“
Literatur. Serhij Zhadan macht die Schrecken des Kriegs in der Ostukraine für europäische Leser spürbar – mit einem Roman: Ein Gespräch über Separatisten als Terroristen, die Illusion der Unentschiedenen und konkrete Schuld.
Der ukrainische Autor Serhij Zhadan im Interview.
Die Presse: Der Krieg ist noch im Gange, und Sie haben schon einen Roman, „Internat“, darüber geschrieben. Ist dazu nicht mehr Abstand notwendig? Serhij Zhadan: Ich höre das ständig. Während des Krieges könne man nichts Hochwertiges über den Krieg schreiben. Ich bringe als Gegenargument immer den Roman „Der stille Don“von Michail Scholochow (sowjetischer Literaturnobelpreisträger, Anm.). Er schrieb als direkte Reaktion auf das, was vor sich ging. Ja, man kann zehn Jahre warten, bis das Blut und die Tränen sich in einen literarischen Stoff verwandelt haben, aber man kann auch jetzt einen Roman schreiben. Ich habe über den Krieg zu schreiben begonnen, sofort, nachdem er ausgebrochen ist. Für mich ist der Krieg keine Quelle der Inspiration. Für mich ist er eine große Tragödie, ein großes Unglück, das sich in meinem Land ereignet, mit meinen Landsleuten, in meiner unmittelbaren Heimat. Ich stamme ja selbst aus dem Luhansker Gebiet. Deshalb ist es mir wichtig, darüber zu sprechen; deshalb spreche ich darüber. Sollte es nicht sehr tiefgründig sein, werde ich es überleben.
Der Protagonist in „Internat“ist ein Zivilist. Warum haben Sie einen Helden gewählt, der keiner ist? Mittlerweile sind zahlreiche Bücher über den Krieg erschienen, von Soldaten, Journalisten, freiwilligen Helfern. Mir haben von Anfang an die Stimmen der Zivilisten gefehlt, sie finden auch keinen Eingang in die Nachrichten, und die Politik schenkt ihnen keine Aufmerksamkeit. Für mich ist das schmerzhaft. Auch wenn diese Bevölkerung eine schwierige und nicht immer verständliche Position einnimmt, war es mir wichtig, jene zu hören, die in der Konfliktzone leben.
Wie positionieren Sie sich als Schriftsteller in diesem Krieg, wo sehen Sie Ihre Rolle? Ich habe eine eindeutige Position: Ich unterstütze die ukrainische Armee. Ich bin ein ukrainischer Schriftsteller, ein engagierter Schriftsteller. Ich bin für eine geeinte Ukraine; für mich ist Russland der Aggressor. Gleichzeitig ist mir klar, dass die Realität des Krieges nicht schwarz-weiß ist, sie ist nicht so eindeutig, es gibt viele Schattierungen. Man kann versuchen, das zu ignorieren. Mir scheint, es ist richtiger, darüber zu sprechen. Selbst wenn die Nuancen nicht sehr sympathisch sind und nicht unserem komfortablen Bild vom Krieg entsprechen. Wie gehen Sie mit den Widersprüchen um? Etwa, dass nicht alle ukrainischen Bürger eine geeinte Ukraine unterstützen? Schwierigkeiten entstehen dann, wenn man nicht vollkommen ehrlich zu sich selbst ist. Natürlich verstehe ich, dass bei Weitem nicht alle Bürger der Ukraine die Ukraine unterstützen. Ja, viele Bürger haben im Donbass die Waffe gegen ihr Land ergriffen. Auf der anderen Seite der Front kämpfen teilweise Ukrainer gegen uns. Umso wichtiger ist es, darüber zu sprechen. Ich habe nie die Idee eines naiven Pazifismus a` la „Kommt, lasst uns wieder gut sein“unterstützt. Vermutlich kann man mit einem Menschen, der zur Waffe gegriffen hat, nicht reden. Andererseits warten viele auf der anderen Seite auf die Rückkehr der ukrainischen Staatsmacht. Aus diesem Grund ist für mich auch der Begriff Bürgerkrieg nicht korrekt. Es ist ein Krieg Russlands gegen die Ukraine: Russland hat zum Teil antiukrainische Einstellungen in der Bevölkerung benutzt, um den Krieg zu entfachen. Die Menschen auf der anderen Seite sind zu Geiseln geworden. Die Separatisten sind Terroristen, denn sie halten eine ganze Region in Geiselhaft. Ja, Kommunikation mit der anderen Seite ist schwierig, manchmal ist sie unmöglich, aber es ist wichtig, es probiert zu haben.
Und wie treten diese Unentschiedenen, von denen es im Donbass so viele gibt, in Ihrem Buch auf? Als vollwertige Protagonisten. Es gibt einen Helden – einen Lehrer an der Frontlinie –, wir sehen die Lage mit seinen Augen. Er ist weder für die einen noch für die anderen. Ein Bürger der Ukraine, der seine Arbeit macht. Er nahm weder am Separatistenreferendum noch an den ukrainischen Wahlen teil. Er ist nicht gegen die Ukraine, es ist ihm einfach nicht so wichtig. Das ist ein weitverbreiteter Typus in der Region: Wenn ein Mensch sich nicht von der Politik angesprochen fühlt, denkt er, das gibt ihm die Möglichkeit, außerhalb der Politik zu stehen. Aber so funktioniert es nicht. Denn die Politik tritt in dein Leben, auch wenn du dich nicht für sie interessierst: Der Krieg kommt in dein Dorf.
Die Sprache des Romans ist weniger literarisch als in Ihren früheren Werken, sie ist härter. Ich wollte ein Abbild der Lage anfertigen. Ich habe sogar schon eine neue Idee für einen Roman. Ich habe in den letzten vier Jahren so viele Stimmen gehört, mir scheint es wichtig, sie festzuhalten, damit sie nicht verloren gehen. Denn die Ukraine wird sich das besetzte Territorium zurückholen, wir werden wieder ein geeintes Land sein. Dann wird eine Rekonstruktion der Ereignisse beginnen. Ich will nicht, dass dies aus einer ideologischen oder politischen Position getan wird, sondern aus der Position realer Menschen – Menschen, die gekämpft haben, der Bewohner, der Binnenflüchtlinge.
Sie sagten, Sie haben keinen Zweifel daran, dass der abtrünnige Donbass wieder zur Ukraine zurückkehrt. Wovon hängt das ab? Von politischen und militärischen Entwicklungen. Leider nicht vom Poeten. Wissen Sie, in der Ukraine verstehen leider nicht alle eine wichtige Sache: Wir müssen heute schon darüber nachdenken, wie wir weiterleben wollen. Unsere Bevölkerung bleibt die gleiche. Die Beziehungen müssen geklärt werden – wer hat während der Okkupation was gemacht.
Wie soll eine Aufarbeitung des Krieges geschehen? Man muss jedem Menschen einzeln begegnen. Man darf nicht alle, die sich auf der anderen Seite befinden, zu Kollaborateuren, Feinden und Verrätern erklären. Das ist eine stalinistische Position. Andererseits darf man nicht alle entschuldigen und von Verantwortung freisprechen. Im Krieg gibt es immer konkrete Ausführende. Nicht Putin schießt von der anderen Seite. Das sind Menschen, die in Luhansk und Donezk leben. Das ist eine Frage für den Rechtsstaat.