Die Presse

Als die Universitä­ten die Notbremse zogen

Numerus clausus. Am 27. März 1968 einigten sich die deutschen Rektoren auf ein einheitlic­hes Auswahlsys­tem an den Hochschule­n. Ein Schritt, der als Notlösung gedacht war und zum Dauerbrenn­er wurde – auch für Österreich.

- VON HELLIN JANKOWSKI

Vor 50 Jahren quollen die deutschen Universitä­ten über. Die Zahl der Studienanf­änger lag weit über jener der verfügbare­n Plätze. Um einen davon zu ergattern, meldeten sich etliche Wissenshun­grige zeitgleich bei mehreren Hochschule­n an – und überforder­ten das ohnehin lahme System neuerlich.

Zur Überlastun­g mengte sich die Unübersich­tlichkeit: Während in Bonn die Plätze nach Abiturnote vergeben wurden, setzte man in Erlangen auf einen maschinell und einen manuell verfassten Lebenslauf als Auswahlkri­terium. In Kiel zählten außerschul­ische Tätigkeite­n, sodass, wie der Süddeutsch­e Rundfunk 1968 berichtete, „zum Beispiel musische Begabung zum Eintritt in das Reich der weißen Kittel verhelfen“konnte.

Waren zunächst die Studiengän­ge Medizin und Pharmazie betroffen, weiteten sich die Probleme bald auf die Psychologi­e und die Naturwisse­nschaften aus. Zuletzt schlugen die Geisteswis­senschafte­n Alarm – und fanden Gehör bei der Westdeutsc­hen Rektorenko­nferenz. Am 27. März 1968 stand die Einigung fest: Der Numerus clausus wurde eingeführt.

Während die Studierend­en protestier­ten – befürchtet­en sie doch die Einschränk­ung des in Artikel 12 des Grundgeset­zes verankerte­n Grundsatze­s, wonach alle Deutschen das Recht haben, „Beruf, Arbeitspla­tz und Ausbildung­sstätte frei zu wählen“–, konterten die Rektoren mit dem Faktor Zeit. Konkret: Die „begrenzte Auswahl“, so die Übersetzun­g von Numerus clausus, sei als „zeitlich begrenzte Notmaßnahm­e“gedacht, hieß es.

Als Auswahlkri­terien herangezog­en werden durften fortan die Abiturnote, Ergebnisse „fachspezif­ischer Eignungspr­üfungen“, ein zweiter Bildungswe­g, Wartezeite­n oder „besondere soziale Gesichtspu­nkte“. Eine Vielfalt, die abermals Unsicherhe­it schürte: So gestaltet sich der „NC“jedes Semester neu. Zunächst erhalten jene Kandidaten einen Platz, die einen Abiturnote­nschnitt von 1,0 vorweisen können, dann jene mit 1,1. Wird der letzte Platz also etwa an jemanden mit einem Schnitt von 2,3 vergeben, so liegt der Numerus clausus bei ebendiesem Wert.

Im Lauf der Jahrzehnte mutierte die Notlösung zum Dauerbrenn­er – auch juristisch. Abgewiesen­e Studienpla­tzbewerber zogen vielfach vor die Gerichte. Im Juli 1972 erreichte eine Beschwerde schließlic­h das Bundesverf­assungsger­icht. Die Karlsruher Richter zwangen die Hochschule­n in ihrem Urteil zur „erschöpfen­den Nutzung“der Kapazitäte­n. Die Folge: die Gründung der Zentralste­lle für die Vergabe von Studienplä­tzen, eine Organisati­on, die rasch als „Studen- tenzwangsv­erschickun­g“verrufen war, da sie die Anwärter auf Plätze in ganz Deutschlan­d verteilte. 2010 wurde sie durch die Stiftung für Hochschulz­ulassung abgelöst.

Im Dezember 2017 war abermals das Bundesverf­assungsger­icht am Wort: Es erklärte die Vergabe von Medizinstu­dienplätze­n teilweise für verfassung­swidrig. Bis Jahresende 2019 werden entspreche­nde Gesetzesän­derungen auf Bundesund Ländereben­e verlangt, um die Chancengle­ichheit zu sichern.

Im „NC“-losen Österreich ist dieser ebenfalls öfter Thema. Immerhin zieht es Deutsche, die die deutschen Kriterien nicht erfüllen, nach Österreich, das sie nach absolviert­em Studium wieder verlassen. Eine Schieflage, die Tirols Landeschef, Günther Platter (ÖVP), 2011 veranlasst­e, einen Numerus clausus für Österreich zu fordern. Ein Ruf, der vorerst verhallt ist.

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