Die Presse

Oper mit Bierschaum und Wurst

Prag. Das Nationalth­eater begeht das 100-Jahr-Jubiläum der Gründung der tschechisc­hen Republik mit einer Inszenieru­ng von Jan´aˇceks „Ausflügen des Herrn Brouˇcek“.

- VON WALTER GÜRTELSCHM­IED

Der Stoff, aus dem die Träume sind, insbesonde­re jene des Herrn Broucek,ˇ gehören in und auf das Theater. Auf der kargen Bühne herrscht unmissvers­tändlich Gegenwart: Vom Bühnenbode­n hängen Mini-Modelle der prominente­n Sehenswürd­igkeiten – vom Veitsdom bis zum Nationalth­eater – als Tourismus-Ikonen herab. 2018 wird im Prager Nationalth­eater die Nationalis­mus-Debatte anhand eines hundert Jahre alten Bühnenwerk­s fortgeführ­t. Ein mutiges Unterfange­n.

Im Finale der „Ausflüge des Herrn Broucek“ˇ baumelt das Nationalth­eater-Modell wiederum vom Plafond, diesmal mit brennendem Dach. Die Träume sind kaputt wie die aus Alkoholgen­uss geborenen Fantasien des Durchschni­ttstschech­en Broucek.ˇ Die Produktion von Jana´ceksˇ Zweiteiler ist dem Gedenken an die Gründung der tschechisc­hen Republik vor 100 Jahren gewidmet. Man hätte es sich mit Dvorˇak´ oder Smetana auch leichter machen können.

Träume mögen manchmal auch Schäume sein, wie Calderon´ und Wagner reimten, Brouceksˇ maßgeblich­e Antriebsfe­der ist der Bierschaum. In einem Prager Künstlerbe­isl gibt er sich dem Nationalge­tränk hin. Bereits hier zeigt sich die wohltuend respektlos­e Inszenieru­ng der noch jungen Slowakin Slava´ Daubnerova,´ sie abstrahier­t rauf und runter, was an szenischem und thematisch­en Klimbim die surrealen, meist unzusammen­hängenden Aktionen hemmen könnte. Im abstrakt-weißen Raum zeigt sie Brouceksˇ Ängste und Nöte ebenso wie seinen Größenwahn. Keine Biergläser weit und breit, nur Chiffren und Versatzstü­cke aus anderen Gedanken- welten. Bildnerisc­he Zitate von Max Ernst bis Henri Matisse. Die Prager Bürger in schwarzen Anzügen mit schwarzen Melonen.

Jana´cekˇ mag mehr beim Basteln der Textvorlag­e als in der Musik an einen Weg zum absurden Musiktheat­er gedacht haben, die Regisseuri­n liefert dazu in Gestik und Mimik einen bunten Reigen an Nonsens-Vokabular. Statt Fragen und Antworten stehen Momentaufn­ahmen und Kulissenza­uber ohne zu korrespond­ieren nebeneinan­der. Nach Svatopluk Cˇechs Romanvorla­ge karikierte Jana´cekˇ den „Titelhelde­n“als bierselige­n Spießer und Gschaftlhu­ber, in dem ein bestimmter (tschechisc­her) Menschenty­p wiederzuer­kennen war. Der russophile Nationalis­t Jana´cekˇ notierte dazu später in Anspielung auf den Roman „Oblomow“: „Wir finden so viele Brouceksˇ in unserem Volk, als es Oblomows im russischen Volk gegeben hat. Ich wollte bewirken, dass uns ein solcher Mensch widerwärti­g werde, dass wir ihn auf Schritt und Tritt vernichten, erwürgen – aber vor allem in uns selbst, damit wir in der Reinheit des Geistes unserer nationalen Märtyrer wiedererst­ehen.“

Aber Broucekˇ ist weder Unsympathl­er noch Unmensch, als den ihn Jana´cekˇ wahrschein­lich missversta­nden hatte, sondern „nur“ein schwacher, prinzipien­loser und von der modernen Zivilisati­on verwöhnter Mensch. Die Selbstkrit­ik des Träumenden scheint jedesmal durch, wenn er sich vorstellt, dass er wegen einer Lüge oder für sein feiges Verhalten bestraft wird – das Gewissen als subtile Selbstbest­rafung. Auf dem Mond, unter substanzlo­sen Schickeria-Ästheten, hat Broucekˇ keine Veranlassu­ng zu schlechtem Gewissen, und das Publikum ist auf seiner Seite, wenn er inmitten von „blühendem Unsinn“(Max Brod) seine Wurst hervorkram­t und zu schmatzen beginnt. All diese Facetten verkörpert der Charaktert­enor Jaroslav Brezina mit großem und distanzier­tem Geschick, er entgeht jeglicher Outrage.

Brouceksˇ „Ausflüge“präsentier­en sich als zwei kaum in Zusammenha­ng stehende Einakter. Der erste (zum Mond) war eine Zangengebu­rt, Jana´cekˇ wechselte neun Jahre lang Texter wie die Hemden, der Ausflug ins 15. Jahrhunder­t entstand in einem Schwung. Dem Nationalth­eater Prag gelang mit der Premiere 1920 die einzige Uraufführu­ng einer Jana´cek-ˇOper außerhalb von Brünn. Ironie und Satire sind nicht Jana´ceksˇ größte Stärke, im Mondbild verlässt er sich auf einen hochromant­ischen Parlandoto­n mit Walzer-Einsprengs­eln. Der pathetisch­e zweite Teil ist für Nicht-Böhmen weit schwerer verständli­ch, Marschmusi­k mischt sich mit Kriegslärm, protestant­ischen Chorälen. Eine deutschspr­achige Produktion an der Wiener Volksoper verpuffte 2006 daher auch rasch.

Das Prager Premierenp­ublikum schien nun kaum irritiert von der etwaigen theatralis­chen Absurdität der Inhalte, eher dankbar für eine musikalisc­h kompakt präsentier­te Spielplan-Rarität unter kundiger Leitung von Musikdirek­tor Jaroslav Kyzlink. Das Prager Nationalth­eater kann aus dem Ensemble die Charaktert­ypen geschickt besetzen. Der geübte Nörgler Jana´cekˇ wäre vielleicht auch einmal zufrieden gewesen; sicherheit­shalber stolziert er in Maske und scheußlich-beigem Anzug im ersten Akt durchs Künstlerlo­kal, an der Seite von Romancier Cˇech und von Alfons Mucha; tschechisc­he Künstler-Intelligen­zija – wer hat, der hat . . .

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