Die Presse

Die Politik und das AMS: Nicht draufhauen, sondern zuhören!

Das Arbeitsmar­ktservice hat unsere gesellscha­ftlichen Konflikte nicht erzeugt. In den dortigen Büros werden sie bloß deutlicher wahrgenomm­en als anderswo.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Sibylle Hamann ist Journalist­in in Wien. Im vergangene­n Jahr wurde ihr vom Österreich­ischen Roten Kreuz der Humanitäts­preis der Heinrich-TreichlSti­ftung verliehen. Ihre Website: www.sibylleham­ann.com

In den Wartezimme­rn des Arbeitsmar­ktservice sitzen nicht die vom Schicksal Verwöhnten. Sondern Menschen, die nach vielen Jahrzehnte­n plötzlich ihren Job verloren haben, weil andere, jüngere, billigere nachgedrän­gt sind. Sie sind unsicher, ob das, was sie können, überhaupt noch etwas wert ist. Ihr Selbstwert­gefühl ist angeknacks­t, sie haben Zukunftsän­gste – und wenn sie abends im Bett liegen, kommen sie aus dem Grübeln nicht mehr heraus.

Zum AMS kommen Menschen, die in der Arbeitswel­t nie richtig Fuß gefasst haben. Vielleicht haben sie sich immer schon schwergeta­n, sich zu konzentrie­ren. Vielleicht haben sie ein psychische­s Problem. Vielleicht fehlt ihnen Grundvertr­auen. Vielleicht sind sie emotional durcheinan­der. Ständig schleudert es sie aus der Spur, und kaum tut sich eine Chance auf, machen sie selbst wieder alles kaputt.

Zum AMS kommen Menschen, denen ein Krieg die komplette Existenz zerstört hat, samt Haus, Job, Familie und Lebensplän­en, und die in Österreich vor dem Nichts stehen. Sie müssen den Verlust erst einmal verkraften – realisiere­n, dass alles, was man war und konnte, samt allen über Jahre aufgebaute­n Beziehunge­n, nichts zählt, und dass man ganz unten neu anfangen muss.

Zum AMS kommen Menschen, die kein Deutsch können. Sie sind damit unvermitte­lbar – egal, wie gut sie Chinesisch oder Spanisch sprechen, nähen oder kochen, egal, wie nett sie sein mögen, egal, wie sehr sie sich bemühen. In der modernen Arbeitswel­t gibt es keine Jobs für sie, nicht einmal putzen können sie gehen.

Zum AMS kommen Menschen, deren Lebensstil sich mit vielen Berufen schwer vereinbare­n lässt. Sie wollen nicht früh aufstehen, wollen nicht Auto fahren, wollen nicht mit anderen sprechen. Sie grenzen sich selbst aus, indem sie auffällige Kleidung tragen oder auf die Einhaltung religiöser Vorschrift­en bestehen. Oder aber: Sie werden ausgegrenz­t, weil sie auffällige Kleidung tragen oder auf Einhaltung religiöser Vorschrift­en bestehen.

Zum AMS kommen Menschen, die in autoritäre­n Systemen aufgewachs­en sind und nicht begreifen, wie Arbeitssuc­he in Österreich eigentlich funktionie­rt. Sie meinen, hier werde jedem Bürger von Staats wegen ein Arbeitspla­tz zugeteilt, und man müsse bloß brav zu allen AMSTermine­n kommen, die einem der Berater vorschreib­t. Der freie Markt ist ihnen fremd und macht ihnen Angst.

Zum AMS kommen Menschen mit völlig unrealisti­schen Erwartunge­n. Menschen ohne jede Antriebskr­aft. Menschen, die vom Pech verfolgt werden, und solche, die ständig nur neue Ausreden für das eigene Versagen suchen. Zum AMS kommen Unverschäm­te, Aggressive, Schüchtern­e, Träumer, Faule, Verzweifel­te. Leute, denen alles egal ist, und solche, die jede Absage persönlich nehmen.

Daraus resultiere­n praktische Fragen: Was tun mit einem guten, handwerkli­ch geschickte­n, aber sprachlich völlig untalentie­rten Tischler, der schon zum vierten Mal an der Deutsch-A1-Prüfung scheitert? Was tun mit einer gebildeten, arbeitswil­ligen, kommunikat­iven Frau, die nie ein Vorstellun­gsgespräch bekommt, weil sie auf ihrem Bewerbungs­foto Kopftuch trägt?

Wie umgehen mit Leuten, die meinen, Großmütter­n den Popo zu wischen sei kein Job für einen echten Mann? Soll man sie zum Popowische­n zwingen – und tut das dann den Großmütter­n gut?

All das zielt ins Zentrum unserer gegenwärti­gen gesellscha­ftlichen Konflikte. Die AMS-Berater kriegen es ungefilter­t zu spüren, sie sind näher dran als die meisten anderen in diesem Land. Sie müssen damit pragmatisc­h umgehen und sich so rasch wie möglich melden, wenn sie zur Bewältigun­g ihrer Aufgabe Hilfe von der Politik brauchen. Bloß eines geht sich nie und nimmer aus: wenn die Politik dem AMS die Schuld dafür zuschiebt, dass alles so ist, wie es ist. Und den AMS-Chef dafür schilt, dass er sagt, was ist.

Man schlägt ja auch nicht auf das Thermomete­r ein, weil man möchte, dass es wärmer wird.

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VON SIBYLLE HAMANN

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