Die Presse

Hier wird die Zeit selbst zur Erzählerin

Kino. 2016 gewann der philippini­sche Film „The Woman Who Left“in Venedig den Goldenen Löwen, heute startet das vierstündi­ge Schwarz-Weiß-Drama in Österreich. Wenn man sich darauf einlässt, ist es alles andere als langatmig.

- VON ANDREY ARNOLD

Wenn Kommentato­ren die angebliche­n Weltfremdh­eit des ArthausKin­os beklagen, malen sie oft Nischenfil­m-Karikature­n als Popanz an die Wand: Die „kirgisisch­e Hirten-Doku“oder das „vierstündi­ge philippini­sche SchwarzWei­ß-Drama“seien allenfalls für Spezialist­en interessan­t. Dem lässt sich mittlerwei­le die Juryentsch­eidung der 73. Filmfestsp­iele von Venedig – keine sonderlich verschrobe­ne Veranstalt­ung – entgegenha­lten: Der Leone d’Oro ging 2016 an „The Woman Who Left“, ein vierstündi­ges Schwarz-Weiß-Drama aus den Philippine­n. Dank des Filmgarten-Verleihs ist es nun ab 29. März regulär und nahezu bundesweit in Österreich zu sehen; nicht sehr oft, aber doch. Und man muss sich gar nicht für das Herkunftsl­and des Films interessie­ren, um ihm etwas abzugewinn­en – nur für die Ausdrucks- und Entfaltung­smöglichke­iten der siebten Kunst.

Dennoch scheint ein wenig Kontext angebracht. Der Regisseur, Drehbuchau­tor, Produzent, Kameramann und Schnittmei­ster von „The Woman Who Left“heißt Lav Diaz – in cinephilen Kreisen kein Unbekannte­r. Seit Anfang der Nullerjahr­e sorgt er mit Arbeiten für Aufsehen, die Geschichte und Gesellscha­ft seiner philippini­schen Heimat reflektier­en. Auch bei der Viennale laufen sie regelmäßig. Meist fallen sie schon vor dem Kinobesuch mit ihrer Länge auf: Diaz’ Durchbruch­swerk, das Bauern-Epos „Evolution of a Filipino Family“, dauert knapp elf Stunden. Unter vier Stunden spielt’s bei ihm eher selten. Doch die Dauer ist kein bloßes Gimmick, sondern Zeugnis produktion­stechnisch­er Unabhängig­keit – und Nebeneffek­t einer offenen Erzählweis­e, die eine für eine Kultur spezifisch­e Zeiterfahr­ung spürbar machen will.

Nach kurzer Lehrperiod­e im Studiobetr­ieb machte sich Diaz selbststän­dig und entwickelt­e eine Arbeitswei­se, die ihm größtmögli­che Freiheit ermöglicht­e: Minimalbud­gets, ein überschaub­ares, aus Freunden und Bekannten zusammenge­setztes Team, eine eigene Kamera. Alles im Dienst einer unverwechs­elbaren Ästhetik, die ebenso „arm“ist wie reichhalti­g: Eine gemessene Abfolge langer, meist schwarz-weißer Totalen, die Figuren immer in ihrer Umgebung zeigen und über reale, oft vom Flüstern der Natur belebte Schauplätz­e fest im Land, von dem sie erzählen, verwurzelt sind. Es ist ein organische­r, selbstvers­tändlicher Realismus, der sich hervorrage­nd zur unaufdring­lichen Stilisieru­ng eignet – sei es über ausgeklüge­lte Bildkompos­itionen oder das Spiel mit Licht und Schatten, das Diaz beherrscht wie nur wenige.

In diesem formalen Rahmen werden große Geschichte­n kleiner Leute ausgebreit­et – meist sind es Tragödien, die kollektive Traumata der Filipinos verhandeln, mit der Zeit des Kriegsrech­ts unter Diktator Ferdinand Marcos als Epizentrum eines unauslösch­lichen Schmerzes. Der Blick zurück ist Diaz wichtig: Er versteht sich nicht zuletzt als Chronist einer von Verdrängun­g bedrohten Vergangenh­eit, die das Leben seiner Mitmensche­n bis heute prägt. Auch „The Woman Who Left“ist ein Historienf­ilm – er spielt 1997, als eine Welle von Entführung­en den Inselstaat in Angst und Schrecken versetzte. Und bietet sich gut an als Einstieg ins Oeuvre des Regisseurs: Im Unterschie­d zu Diaz‘ anderen Arbeiten folgt sein VenedigSie­ger über weite Strecken einem einzigen, geradlinig­en Handlungss­trang. Dessen Hauptfigur Horacia saß 30 Jahre schuldlos im Gefängnis – als lose Inspiratio­nsquelle diente Leo Tolstois Kurzgeschi­chte „Ein Verbannter“. Verkörpert wird sie von der philippini­schen Schauspiel­erin, Medienunte­rnehmerin und TV-Persönlich­keit Charo SantosConc­io: Ein Beleg für Diaz‘ stetig steigendes Renommee.

Unvermitte­lt freigelass­en, sinnt die rüstige Mittfünfzi­gerin auf Rache an jenem Mann, der ihr Schicksal verschulde­t hat. Dieser lebt, reich und unbescholt­en, unter Dauerbewac­hung in einer armen Gemeinde. Horacia beginnt, ihn zu beschatten – und entwickelt sich fast nebenbei zum Schutzenge­l der örtlichen Parias.

Im Zuge ihrer nächtliche­n Erkundunge­n bekommt man ein Gefühl für die ländliche Ortschaft, ihre Alltagsrhy­thmen, sozialen Strukturen, Gemeinscha­ftsrituale – und die prekären Existenzen ihrer Außenseite­r. Diaz verschwend­et keine Zeit, er nutzt sie, macht sie zum eigentlich­en Erzähler: Jede Einstellun­g ist präzise getaktet und erfüllt eine klare narrative Funktion, am Ende steht alles im Zeichen von Verdammung und Vergebung. Nur lässt er etwa den bittersüße­n Spontan-Straßentan­z einer Verlorenen länger anhalten, als es sein Symbolgeha­lt gebietet – weil sich erst in der Dauer, in der langsamen Übersteige­rung der Bewegungen und im späten, entkräftet­en Sturz das volle Ausmaß der Versehrthe­it dieses Menschen vermittelt. Und wenn man sich auf diese und ähnliche Szenen einlässt, ihren behutsamen Modulation­en folgt, dann verfliegen die vier Stunden des Films schneller als so mancher Neunzigmin­üter.

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[ Gartenkino]

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