Ist die dunkle Materie doch verzichtbar?
Astronomie. Eine kleine Galaxie scheint nur aus normaler Materie zu bestehen. Das provoziert die Kosmologie.
Dunkel und geheimnisvoll ist das heutige Weltbild der Physik: 72 Prozent des Universums seien dunkle Energie, über die man eigentlich gar nichts weiß (und die man vor allem braucht, um die Expansion des Alls zu erklären), 23 Prozent bestehe aus dunkler Materie, und nur der Rest von ungefähr fünf Prozent sei Materie, wie wir sie kennen und sehen können.
Die dunkle Materie können wir nicht sehen, weil sie keine elektromagnetische Wechselwirkung kennt. Die starke Kernkraft kennt sie auch nicht, ob sie die schwache Kernkraft spürt, ist umstritten. Die Gravitation spürt sie schon, und sie erzeugt vice versa auch solche, daher sind die Astrophysiker ja auf sie gekommen. Sie können die Bewegungen der Sterne in einer Galaxie nämlich genauso wenig ohne Annahme von dunkler Materie erklären wie die Bewegungen von Galaxien in einem Galaxienhaufen.
Dabei glauben die meisten Astrophysiker, dass sich die dunkle Materie zu kugelförmigen Strukturen zusammenballt und so etwa den kugelförmigen Halo von Galaxien prägt – im Gegensatz zur Scheibe, in der sichtbare Materie vorherrscht. Das Verhältnis von dunkler zu sichtbarer Materie ist dabei keinesfalls in allen Galaxien gleich, genauso wenig wie das – für Astrophysiker leichter bestimmbare – Verhältnis von Masse des Halos (zu der hier die Scheibe auch gerechnet wird) zur Masse aller Sterne einer Galaxie. Dieses Verhältnis ist bei unserer Milchstraße ungefähr 30:1, bei Zwerggalaxien viel größer. Umso erstaunlicher ist, was Astronomen um Pieter van Dokkum (Yale University) nun in Nature (28. 3.) berichten: Aus der Messung der Radialgeschwindigkeiten von zehn hellen Stern-Clustern in einer Galaxie schließen sie, dass in dieser das oben geschilderte Verhältnis ungefähr gleich eins ist. Was bedeutet, dass diese Galaxie praktisch keine dunkle Materie enthält.
Dazu muss man sagen, dass diese Galaxie – die NGC1052-DF2 heißt und circa 65 Millionen Lichtjahre von uns entfernt ist – sehr diffus ist. (Wobei: Einer anderen solchen ultradiffusen Galaxie – Dragonfly 44 – wird ein sehr hoher Anteil dunkler Materie zugeschrieben.) „Es ist unbekannt, wie sich diese Galaxie gebildet hat“, schreiben die Astronomen: „Eine Möglichkeit ist, dass sie aus Gas entstanden ist, das aus miteinander verschmelzenden Galaxien geschleudert wurde.“Dafür spreche auch die Nähe zur großen elliptischen Galaxie NGC1052.
Jedenfalls spreche die Existenz einer solchen Galaxie dafür, dass dunkle Materie von Galaxien separierbar sei. Und dafür, dass diese „a distinct ,substance‘“sei (man beachte die Anführungszeichen um das Wort Substanz), „that may or may not be present in a galaxy“.
So paradox es klingt: Wenn sich die Annahme erhärten sollte, dass es Galaxien ohne dunkle Materie gibt, spricht das gegen alternative Theorien, die ohne dunkle Materie auskommen, etwa die „modified Newtonian dynamics“(Akronym: Mond). Denn wenn – wie solche Theorien behaupten – nur das (durch eine modifizierte Gravitationstheorie erklärte) Verhalten normaler Materie uns die Existenz dunkler Materie vorspiegelt, dann muss dieser Täuscheffekt bei jeder Ansammlung normaler Materie eintreten.