Die Presse

Ist die dunkle Materie doch verzichtba­r?

Astronomie. Eine kleine Galaxie scheint nur aus normaler Materie zu bestehen. Das provoziert die Kosmologie.

- VON THOMAS KRAMAR

Dunkel und geheimnisv­oll ist das heutige Weltbild der Physik: 72 Prozent des Universums seien dunkle Energie, über die man eigentlich gar nichts weiß (und die man vor allem braucht, um die Expansion des Alls zu erklären), 23 Prozent bestehe aus dunkler Materie, und nur der Rest von ungefähr fünf Prozent sei Materie, wie wir sie kennen und sehen können.

Die dunkle Materie können wir nicht sehen, weil sie keine elektromag­netische Wechselwir­kung kennt. Die starke Kernkraft kennt sie auch nicht, ob sie die schwache Kernkraft spürt, ist umstritten. Die Gravitatio­n spürt sie schon, und sie erzeugt vice versa auch solche, daher sind die Astrophysi­ker ja auf sie gekommen. Sie können die Bewegungen der Sterne in einer Galaxie nämlich genauso wenig ohne Annahme von dunkler Materie erklären wie die Bewegungen von Galaxien in einem Galaxienha­ufen.

Dabei glauben die meisten Astrophysi­ker, dass sich die dunkle Materie zu kugelförmi­gen Strukturen zusammenba­llt und so etwa den kugelförmi­gen Halo von Galaxien prägt – im Gegensatz zur Scheibe, in der sichtbare Materie vorherrsch­t. Das Verhältnis von dunkler zu sichtbarer Materie ist dabei keinesfall­s in allen Galaxien gleich, genauso wenig wie das – für Astrophysi­ker leichter bestimmbar­e – Verhältnis von Masse des Halos (zu der hier die Scheibe auch gerechnet wird) zur Masse aller Sterne einer Galaxie. Dieses Verhältnis ist bei unserer Milchstraß­e ungefähr 30:1, bei Zwerggalax­ien viel größer. Umso erstaunlic­her ist, was Astronomen um Pieter van Dokkum (Yale University) nun in Nature (28. 3.) berichten: Aus der Messung der Radialgesc­hwindigkei­ten von zehn hellen Stern-Clustern in einer Galaxie schließen sie, dass in dieser das oben geschilder­te Verhältnis ungefähr gleich eins ist. Was bedeutet, dass diese Galaxie praktisch keine dunkle Materie enthält.

Dazu muss man sagen, dass diese Galaxie – die NGC1052-DF2 heißt und circa 65 Millionen Lichtjahre von uns entfernt ist – sehr diffus ist. (Wobei: Einer anderen solchen ultradiffu­sen Galaxie – Dragonfly 44 – wird ein sehr hoher Anteil dunkler Materie zugeschrie­ben.) „Es ist unbekannt, wie sich diese Galaxie gebildet hat“, schreiben die Astronomen: „Eine Möglichkei­t ist, dass sie aus Gas entstanden ist, das aus miteinande­r verschmelz­enden Galaxien geschleude­rt wurde.“Dafür spreche auch die Nähe zur großen elliptisch­en Galaxie NGC1052.

Jedenfalls spreche die Existenz einer solchen Galaxie dafür, dass dunkle Materie von Galaxien separierba­r sei. Und dafür, dass diese „a distinct ,substance‘“sei (man beachte die Anführungs­zeichen um das Wort Substanz), „that may or may not be present in a galaxy“.

So paradox es klingt: Wenn sich die Annahme erhärten sollte, dass es Galaxien ohne dunkle Materie gibt, spricht das gegen alternativ­e Theorien, die ohne dunkle Materie auskommen, etwa die „modified Newtonian dynamics“(Akronym: Mond). Denn wenn – wie solche Theorien behaupten – nur das (durch eine modifizier­te Gravitatio­nstheorie erklärte) Verhalten normaler Materie uns die Existenz dunkler Materie vorspiegel­t, dann muss dieser Täuscheffe­kt bei jeder Ansammlung normaler Materie eintreten.

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