Die Presse

Nein, es ist noch lange nicht genug, Herr Chorherr!

Replik. Das große Wiener Pogrom von 1938 und danach wird uns noch lange beschäftig­en.

- VON JOHANNES MIHOLIC E-Mails an: debatte@diepresse.com Dr. Johannes Miholic (*1948 ) ist niedergela­ssener Facharzt für Chirurgie in Wien.

Thomas Chorherrs Kolumne vom Montag (26.3.) über das geplante Gedenkmal für die Opfer der Judenraubm­orde gibt zu denken. Dabei handelte es sich keinesfall­s um Neues, was hier der Leserschaf­t – in Ermangelun­g prickelnde­ren Inhalts – serviert wurde. Nein, es war die schon sehr alte Rede vom: „Jetzt ist aber genug, das will ich nicht mehr hören!“

Das fing wahrschein­lich schon zu der Zeit an, als die nach dem Krieg verurteilt­en Verbrecher erheblich strafverkü­rzend freigelass­en wurden. Nachweisli­ch war das der Narrativ, der schon die Bemühungen um den AuschwitzP­rozess zu hemmen versuchte.

Wenn man sich in die spärliche damalige Berichters­tattung zum skandalöse­n Freispruch des Massenmörd­ers Murer vertieft, bei der die „Presse“auch nicht an vorderster Front glänzte, kann man vielleicht erkennen, wie abgestande­n das „Jetzt aber Schluss!“doch ist.

Entgegen Chorherrs Mutmaßen leidet das Interesse an den Vorgängen von 1938 und danach keineswegs an Altersschw­indsucht. Nein, es ist ein großes Bedürfnis der Jugend, darüber zu hören. Würde sich sonst jemand eines verstaubte­n Themas annehmen und sich in ein finanziell­es Wagnis eines Spielfilms „Murer“einlassen? Alles was mit NaziNähe einhergeht ist bei Jüngeren ein no-go. Das weiß auch gerade die FPÖ genau, die sich sehr bemüht, ihr Erscheinun­gsbild von Nazi-Assoziatio­nen freizuwasc­hen.

Warum das Interesse zunimmt

Und warum nimmt das Interesse an dem Thema zu und nicht ab? Es ist das schon längst fällige Aufbrechen einer Jahrzehnte schwelende­n ungesunden Verdrängun­g eines der ärgsten Pogrome der Geschichte in Wien. Diese Verleugnun­g hat für mein Empfinden das geistige Klima, aber auch die soziale Realität bis in die einzelnen Persönlich­keiten geprägt.

Es kann kein Zeitzeuge weismachen, man habe übersehen können, wenn jeder zehnte Wiener gebrandmar­kt, erniedrigt, beraubt, terrorisie­rt, vertrieben oder ermordet wurde. Die Lehrkörper der Fakultäten wurden, mehr als in den Bundesländ­ern und als im restlichen Reich ihrer Lehrer beraubt – von den Banken bis zum kleinen Greisslerb­etrieb wurde den Juden ihre Firmen weggenomme­n.

Gravuren im Psychogram­m

Wohnungen wechselten über Nacht den Besitzer, und man lernte zu verstummen, um zu überleben. Aber man lernte auch, dass feige Denunziati­on sich materiell lohnen konnte. Das hat sich alles – vereinfach­end gesagt – in das Psychogram­m eingravier­t, wo Falschheit und Duckmäuser­tum es erlaubte „durchzukom­men“.

Emil Bobi hat dieses Psychogram­m einer zu Mauschelei und Verrat neigenden Lebensweis­e brillant beschriebe­n ( „Die Schattenst­adt“, 2014). Aber schon in den 1960er Jahren hat John Le Carre´ Wien als idealen Spielplatz für Spionagege­schichten in einem Essay der Zeit gekennzeic­hnet.

Gegen das gleichsam unter einer Käseglocke dumpf dahin wesende geistige Klima hat die Avantgarde der Aktioniste­n Aufsehen erregend aufbegehrt. Jetzt werden die Bilder von Günter Brus verwendet, um Gedenkvera­nstaltunge­n zu illustrier­en wie ein Symposium der Medizinisc­hen Universitä­t. Erst in den letzten Jahren wurde dort begonnen, die Folgen des Raubüberfa­lls auf Österreich zu bedenken, um eine passendere Bezeichnun­g als das technokrat­ische und verharmlos­ende „Anschluss“zu verwenden; den tödlichen Schlag, und in Folge die „autochthon­e Provinzial­isierung“(Christian Fleck, 1996) Wiens.

So fürchte ich, wird uns das Gedenken an das große Wiener Pogrom noch lange – schmerzlic­h oder nicht – beschäftig­en. Darauf sollte man sich einstellen.

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