Nein, es ist noch lange nicht genug, Herr Chorherr!
Replik. Das große Wiener Pogrom von 1938 und danach wird uns noch lange beschäftigen.
Thomas Chorherrs Kolumne vom Montag (26.3.) über das geplante Gedenkmal für die Opfer der Judenraubmorde gibt zu denken. Dabei handelte es sich keinesfalls um Neues, was hier der Leserschaft – in Ermangelung prickelnderen Inhalts – serviert wurde. Nein, es war die schon sehr alte Rede vom: „Jetzt ist aber genug, das will ich nicht mehr hören!“
Das fing wahrscheinlich schon zu der Zeit an, als die nach dem Krieg verurteilten Verbrecher erheblich strafverkürzend freigelassen wurden. Nachweislich war das der Narrativ, der schon die Bemühungen um den AuschwitzProzess zu hemmen versuchte.
Wenn man sich in die spärliche damalige Berichterstattung zum skandalösen Freispruch des Massenmörders Murer vertieft, bei der die „Presse“auch nicht an vorderster Front glänzte, kann man vielleicht erkennen, wie abgestanden das „Jetzt aber Schluss!“doch ist.
Entgegen Chorherrs Mutmaßen leidet das Interesse an den Vorgängen von 1938 und danach keineswegs an Altersschwindsucht. Nein, es ist ein großes Bedürfnis der Jugend, darüber zu hören. Würde sich sonst jemand eines verstaubten Themas annehmen und sich in ein finanzielles Wagnis eines Spielfilms „Murer“einlassen? Alles was mit NaziNähe einhergeht ist bei Jüngeren ein no-go. Das weiß auch gerade die FPÖ genau, die sich sehr bemüht, ihr Erscheinungsbild von Nazi-Assoziationen freizuwaschen.
Warum das Interesse zunimmt
Und warum nimmt das Interesse an dem Thema zu und nicht ab? Es ist das schon längst fällige Aufbrechen einer Jahrzehnte schwelenden ungesunden Verdrängung eines der ärgsten Pogrome der Geschichte in Wien. Diese Verleugnung hat für mein Empfinden das geistige Klima, aber auch die soziale Realität bis in die einzelnen Persönlichkeiten geprägt.
Es kann kein Zeitzeuge weismachen, man habe übersehen können, wenn jeder zehnte Wiener gebrandmarkt, erniedrigt, beraubt, terrorisiert, vertrieben oder ermordet wurde. Die Lehrkörper der Fakultäten wurden, mehr als in den Bundesländern und als im restlichen Reich ihrer Lehrer beraubt – von den Banken bis zum kleinen Greisslerbetrieb wurde den Juden ihre Firmen weggenommen.
Gravuren im Psychogramm
Wohnungen wechselten über Nacht den Besitzer, und man lernte zu verstummen, um zu überleben. Aber man lernte auch, dass feige Denunziation sich materiell lohnen konnte. Das hat sich alles – vereinfachend gesagt – in das Psychogramm eingraviert, wo Falschheit und Duckmäusertum es erlaubte „durchzukommen“.
Emil Bobi hat dieses Psychogramm einer zu Mauschelei und Verrat neigenden Lebensweise brillant beschrieben ( „Die Schattenstadt“, 2014). Aber schon in den 1960er Jahren hat John Le Carre´ Wien als idealen Spielplatz für Spionagegeschichten in einem Essay der Zeit gekennzeichnet.
Gegen das gleichsam unter einer Käseglocke dumpf dahin wesende geistige Klima hat die Avantgarde der Aktionisten Aufsehen erregend aufbegehrt. Jetzt werden die Bilder von Günter Brus verwendet, um Gedenkveranstaltungen zu illustrieren wie ein Symposium der Medizinischen Universität. Erst in den letzten Jahren wurde dort begonnen, die Folgen des Raubüberfalls auf Österreich zu bedenken, um eine passendere Bezeichnung als das technokratische und verharmlosende „Anschluss“zu verwenden; den tödlichen Schlag, und in Folge die „autochthone Provinzialisierung“(Christian Fleck, 1996) Wiens.
So fürchte ich, wird uns das Gedenken an das große Wiener Pogrom noch lange – schmerzlich oder nicht – beschäftigen. Darauf sollte man sich einstellen.