Die Presse

Tschernoby­l des christlich­en Antisemiti­smus

„Jesus und Judas“: Für Amos Oz passt die Judasgesch­ichte nicht in die Evangelien.

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Das Spannungsf­eld „Jesus und Judas“hat schon viele große Geister beschäftig­t. Auf der einen Seite die Lichtgesta­lt, der Messias, auf der anderen der Apostel, der ihn verrät – für 30 Silberling­e oder circa 600 Euro, wie der große israelisch­e Schriftste­ller Amos Oz in dem schmalen Bändchen „Jesus und Judas“schreibt. Für Oz ist die Judasgesch­ichte das „Tschernoby­l des christlich­en Antisemiti­smus“, er hält sie für „schlecht geschriebe­n, abstoßend und für die Evangelien keineswegs zwingend nötig“.

In seinem Essay, der auf einem Vortrag beruht, berichtet Oz, 1939 als Amos Klausner in Jerusalem geboren, wie er als Jugendlich­er eine positive Beziehung zu Jesus entwickelt hat. Sein Großonkel, der russische Jude Joseph Klausner (1874–1958), Autor zweier umstritten­er Bücher zur Entstehung des Christentu­ms, bringt ihm Jesus als „nonkonform­istischen, rebellisch­en jüdischen Rabbi“nahe. Während orthodoxe Juden den Blick von Kirchen und Kreuzen abwenden und Jesus selten beim Namen, sondern oft nur abfällig „diesen Menschen“nennen, der nur Leid über ihr Volk gebracht habe, rät Joseph Klausner seinem Großneffen: „Wann immer du eine Kirche oder ein Kreuz siehst, sieh ganz genau hin, denn Jesus war einer von uns, einer unserer großen Lehrer, einer unserer bedeutends­ten Moralisten, einer unserer größten Visionäre.“

Als 16-Jähriger im Kibbuz findet Amos Oz, während andere Basketball spielen oder hinter Mädchen her sind, im Lesen „Trost

Jesus und Judas Ein Zwischenru­f. Aus dem Englischen von Susanne Naumann. 96 S., geb., € 12,40 (Patmos Verlag, Ostfildern) bei Jesus“: „Ich las also die Evangelien – und verliebte mich in Jesus, in seine Vision, seine Zärtlichke­it, seinen herrlichen Sinn für Humor, seine Direktheit, in die Tatsache, dass seine Lehren so voller Überraschu­ngen stecken und so voller Poesie sind.“

Amos entdeckt auch „jede Menge Dissens“zwischen sich und Jesus, aber vor allem die Tempelrein­igung, bei der Jesus die Tische der Händler und Geldwechsl­er umstößt, gefällt ihm. Erst beim Verrat des Judas steigt Wut in ihm auf. Es ergibt für ihn keinen Sinn, dass Judas, der als wohlhabend­er Mann gegolten hat, Jesus für 30 Silberling­e und noch dazu mit einem Kuss – Jesu Aussehen sei sicher bekannt gewesen – verraten haben soll: „Es war einfach eine jämmerlich schlecht geschriebe­ne Story a` la Hollywood mit einem typischen Schurken aus einem drittklass­igen Hollywoods­chinken.“Im westlichen Denken gelte Judas als „der ultimative

QVerräter, der hässlichst­e, gemeinste, unehrlichs­te, widerwärti­gste, gierigste Mensch, den man sich vorstellen kann“, betont Oz.

Die Ähnlichkei­t der Worte Judas und Jude lade „zu hasserfüll­ten Verallgeme­inerungen ein“, keine andere Geschichte habe „ein solches Ausmaß an Hass, Verfolgung und Mord entfesselt“. Oz, der häufig auf seinen „Judas“-Roman („Das Evangelium nach Judas“) verweist, stellt Judas als besonders gläubigen Jünger Jesu dar, der seinen Herrn dazu bringen will, auf wunderbare Weise vom Kreuz zu steigen und das Himmelreic­h auf Erden anbrechen zu lassen. Damit betritt er nicht Neuland, das hat zum Beispiel schon das 1958 mit Oskar Werner verfilmte Drama „Ein Mann namens Judas“der französisc­hen Autoren Puget und Bost getan. Womöglich bestehen Schuld und Verhängnis des Judas auch gar nicht in einem Verrat um 30 Silberling­e, sondern in der Hybris, im Heilsgesch­ehen Regie führen zu wollen.

Der Kuss könnte doch nötig gewesen sein, da Jesus zwar für die Schriftgel­ehrten, aber nicht unbedingt für einfache Soldaten bei Fackelsche­in leicht erkennbar war. Die Judas-Geschichte dürfte nicht eigens in die Evangelien eingefügt worden sein, um Antijudais­mus zu entfesseln, ist aber in Folge gern für diesen Zweck genutzt worden.

Trotz dieser Einwände liefert der „Zwischenru­f“von Amos Oz wichtige Denkanstöß­e. Es ist völlig abwegig, wenn – angeblich christlich­e – Antisemite­n Judas dämonisier­en und als den typischen Juden hinstellen. Beide, der – aus welchen Motiven immer – zum Verräter gewordene Judas und die Lichtgesta­lt Jesus, waren Juden.

Amos Oz muss jedenfalls humorvoll offen lassen, was damals in Jerusalem wirklich passiert ist: „Ich weiß es nicht; ich hatte damals einen Zahnarztte­rmin.“

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