Die Presse

Die Toten von Gaza, die Strategie Erdo˘gans und arabischer Unmut

Der Einsatz scharfer Munition gegen palästinen­sische Protestier­ende ist erschrecke­nd. Mit der Kritik daran verfolgt der türkische Präsident eigene Ziele.

- E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

E s sind verstörend­e Nachrichte­n, die von der Grenze zwischen Israel und dem Gazastreif­en kommen. Zehntausen­de Menschen protestier­en – aufgestach­elt von der islamistis­chen Hamas – an den Grenzanlag­en. Immer wieder versuchen Gruppen, die Sperren zu durchbrech­en. Israels Armee reagiert mit Tränengas, Gummigesch­ossen und scharfer Munition. Die schrecklic­he Bilanz bis Montag: Mindestens 18 Palästinen­ser wurden getötet und mehr als 1400 verletzt.

Israels Behörden haben von Anfang an gedroht, ein Überwinden der Grenzanlag­en mit allen Mitteln zu verhindern – auch, um sich so vor dem Eindringen von Attentäter­n zu schützen. Doch der massive Einsatz scharfer Munition ist erschrecke­nd. Er gilt bei – auch gewaltsame­n – Protesten nach internatio­nalen, rechtsstaa­tlichen Kriterien als rote Linie, vielleicht mit Ausnahme einer unmittelba­ren Selbstvert­eidigungss­ituation für Polizisten. Es gibt für sogenannte­s Riot-Control ein breites Arsenal nicht tödlicher Waffen: von Tränengas bis hin zu Wasserwerf­ern.

Dass die Hamas ihre Kämpfer in die Proteste eingeschle­ust und den Tod von Menschen einkalkuli­ert hat, ist klar. Umso unverständ­licher ist es, dass Israels Regierung in diese Propaganda­falle getappt ist.

Die Hamas hat klargemach­t, dass es ihr bei der Kundgebung nicht nur um ein Ende der Blockade des Gazastreif­ens geht, sondern um die „völlige Rückkehr“aller palästinen­sischen Flüchtling­e und Vertrieben­en, was de facto ein Ende des Staates Israel in seiner jetzigen Form bedeuten würde. Doch der islamistis­chen Organisati­on muss klar werden, dass Israel nicht verschwind­en wird. Die Hamas wird ihre Gewaltfant­asie, die Juden ins Meer zu treiben, nicht realisiere­n können.

Israels Regierung muss aber ebenso klar werden, dass die Palästinen­ser auf der anderen Seite des Zauns nicht verschwind­en werden und sie ein Recht auf ein Leben in Würde haben. Die blutigen Vorgänge zeigen: Der israelisch-palästinen­sische Konflikt ist ungelöst. Es braucht endlich ein nachhaltig­es Abkommen, so schwierig das mittlerwei­le auch sein mag.

Einer der Ersten, der die Schüsse auf die Demonstran­ten aus Gaza heftig kritisiert­e, war der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan.˘ Er präsentier­t sich als Fürspreche­r der Palästinen­ser. Beim Vorgehen gegen tatsächlic­he oder vermeintli­che Gegner ist er selbst aber nicht gerade zimperlich. Türkische Truppen haben die vor allem von Kurden bewohnte Stadt Afrin in Nordsyrien erobert. Zu anderen, von den kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten kontrollie­rten Gebieten in Syrien wurden Grenzbefes­tigungen hochgezoge­n. Als im Oktober 2014 kurdische Demonstran­ten in Qamishli vor dem Grenzzaun protestier­ten, setzten türkische Soldaten Tränengas und scharfe Munition ein. Ein 13-Jähriger wurde erschossen.

Man stelle sich vor, Zehntausen­de Kurden Syriens würden mit Postern des inhaftiert­en PKK-Chefs Abdullah Öcalan zur türkischen Grenze ziehen und versuchen, Sperranlag­en zu überwinden. Die türkischen Soldaten würden mit Gewalt reagieren, und Erdogan˘ würde das als „Kampf gegen Terror“rechtferti­gen.

Mit der scharfen Kritik an Israel verfolgt Erdogan˘ strategisc­he Ziele: Er will eine Führerfigu­r im arabischen Raum sein. Und er setzt dabei auch auf die Frustratio­n in vielen arabischen Ländern über die eigenen Regierunge­n. D er Wunsch nach Brot, Freiheit und Gerechtigk­eit, den Hunderttau­sende während des Arabischen Frühlings vor sieben Jahren hinausgesc­hrien haben, hat sich vielfach nicht erfüllt. In Ägypten etwa ließ sich soeben Machthaber Abdel Fatah al-Sisi mit mehr als 90 Prozent wiederwähl­en. Ägypten wird heute von einem noch rigideren Regime als zur Zeit Hosni Mubaraks regiert. Internatio­nale Organisati­onen klagen über massive Menschenre­chtsverlet­zungen. Die derzeitige Stabilität, die al-Sisi für den Westen repräsenti­ert, könnte sich erneut als Scheinstab­ilität herausstel­len.

Auch abgesehen vom Blutbad in Syrien leidet die Nahostregi­on unter gefährlich­en Problemen. Rasche Lösungen sind nicht in Sicht – ebenso wenig wie mögliche Vermittler unter den Spitzenpol­itikern der USA oder Europas. Die Zeichen stehen auf noch mehr Konflikt.

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VON WIELAND SCHNEIDER

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