Heroischer Tanz zwischen den Geschlechtern
Osterfestival Tirol. Bachs Johannespassion unter Philippe Herreweghe, Schostakowitsch mit Alexander Melnikov, Anne Teresa De Keersmaekers Choreografie „Rain“– und eine großartige Performance zum Thema Intersexualität.
Worte reichen ja nie ganz aus“, heißt es schon bald in „MDLSX“. Wie praktisch wäre es zum Beispiel, gäbe es einen Begriff für ein Glück, das unweigerlich mit einer Katastrophe einhergeht, räsoniert die Hauptfigur, für den Hass auf den Spiegel, der in mittleren Jahren beginnt, oder eben für ein Mädchen, das immer wieder für einen Buben gehalten wird. Gerade haben wir sie als ein solches Mädchen kennengelernt: beim Karaoke in einer peinlichen italienischen Fernsehshow, ein bisschen scheu und doch unbekümmert falsch drauflos singend. Eine wonnige Kindheit? Alte Videoaufnahmen aus dem Familienarchiv zeigen Silvia Calderoni, wie sie sich im Heranwachsen verwandelt – doch nicht so wie erwartet. Denn die Brüste wollen nicht größer werden (knospende, erblühende Blumen werden später im Video zu erotischen Symbolen), dafür sprießt irgendwann ein „Krokus“zwischen ihren Beinen: Der erwartete, zunächst auch erhoffte Wechsel in den Körper einer Frau bleibt aus, misslingt. Ihr Gesicht wird kantiger, sie lässt ihr platinblondes Haar kurz schneiden – und die Filme zeigen plötzlich einen jungen Burschen.
„MDLSX“– das ist eine Zusammenziehung aus „Middlesex“, dem Titel des Romans von Jeffrey Eugenides über ein Kind, das als Mädchen erzogen wird und später erfährt, dass es aufgrund einer Genmutation intersexuell ist. Vor einer operativen Korrektur in Richtung Frau schreckt Calliope zurück und lebt fortan, dem Fühlen entsprechend, als Cal. Aber „MDLSX“ist weit mehr: Der Rückblick auf das Leben der Performerin Silvia Calderoni und ihre Darstellung des Cal verschwimmen, die eigene Biografie und ein- montierte Zitate aus Eugenides’ Buch sowie aus der Queer-Theorie von Judith Butler, Donna Haraway und Paul B. Preciado verbinden sich mit einem selbst aufgelegten Soundtrack, mit Tanz, Discolichtern und Performance zur berührenden Seelenschau. Calderoni stellt ihren schlaksig-burschikosen Körper aus, hüpft, turnt und verkleidet sich wie ein Teenager, zeigt Lebenslust, Humor – und via Laserlicht auch die Gewalt drohender Operationen. In einer zentralen Szene wirkt sie ungeheuer verletzlich, will kein „Monster“sein, wie ein altes Lexikon suggeriert. Doch insgesamt vermittelt sie das Bild eines im besten Sinne zähen, kraftvollen, triumphierenden Menschen: nicht bloß ein mechanischer „Coin Operated Boy“, son- dern „A Real Hero“aus Fleisch und Blut. „Please, please, please, let me get what I want“, tönt es zum Finale: Man fleht mit – und spürt, dass die Wörter „weiblich“und „männlich“tatsächlich nicht ausreichen.
Diese wunderbare Produktion der Gruppe Motus geriet am Karsamstag im Salzlager Hall zu einem umjubelten Höhepunkt des 30. Osterfestivals Tirol. Unter dem Motto „über.leben“wurden wieder weite thematische Kreise durch allerlei Genres gezogen, von Theater, Tanz, Performance und Film bis hin zu Musik, ob in liturgischem Zusammenhang oder in weltlicher Konzertform. Dürfte man nur einen Begriff verwenden, um Dmitri Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen op. 87 zu beschreiben, wählte man am besten „essenziell“. Das Bachjahr 1950 hat bei ihm eine Beschäftigung mit den althergebrachten Formen angeregt – wider die sozialistische Doktrin, der zufolge rein abstrakte Musik suspekt war. Der Zyklus gilt gerade deshalb als Höhepunkt seines Klavierwerks. Schostakowitschs Rückzug auf Klänge, die sich fernab der Lebenswelt selbst genügen, war mutig und irreleitend zugleich: In Wirklichkeit enthalten diese Stücke, wenn auch höchst kunstvoll sublimiert, zugleich die Essenz eines prekären Daseins im Stalinismus. Alexander Melnikov am Klavier zeichnete die kontrapunktischen Konturen mit unerbittlicher Schärfe nach und traf doch zugleich auch die wechselnden Stimmungen dieses Kaleidoskops. In fis-Moll etwa verbanden sich ein Gefühl von gequälter Rastlosigkeit mit bitterem Lachen und obsessiven Wiederholungen: Große Musik voller Fallstricke und doppelter Böden.
Gäbe es ein einziges treffendes Wort für die Interpretation von Bachs Johannespassion am Karfreitag im Innsbrucker Congress, müsste es ein Gleichgewicht aus gediegener Andacht, Genauigkeit und theatralischer Kraft ausdrücken. Philippe Herreweghe hielt am Pult von Chor und Orchester seines Collegium Vocale Gent das biblische Geschehen ohne Hektik im Fluss; aus dem prachtvoll markanten, aber auch in den Turbae-Szenen nie geifernden Chor trat immer wieder Dorothee Mields mit makellos reinen, schwebenden Soprantönen hervor; die Oboen klagten ausdrucksvoll. Zum Abschluss am Ostersonntag dann Anne Teresa De Keersmaekers Choreografie „Rain“, ein moderner Klassiker zu Steve Reichs prasselnd-rasselnder „Music for 18 Musicians“, unermüdlich kraftvoll getanzt von der Compagnie Rosas. Mit einem Wort: Jubel.