Die Presse

Moskau geht in die Offensive

Fall Skripal. Nachdem die genaue Herkunft des Nervengift­s nicht feststellb­ar ist, setzt Russland zum rhetorisch­en Gegenangri­ff an. London lehnt gemeinsame Untersuchu­ng ab.

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

Der Fall Skripal ist eine Chronik der diplomatis­chen Entgleisun­g. Die Kommunikat­ion zwischen Moskau und London ähnelt zusehends einem Schlagabta­usch voller Sarkasmus, Schadenfre­ude und schlechtem Willen, gepaart mit einer großen Portion Misstrauen. Auch die gestrige Sondersitz­ung der Organisati­on für ein Verbot von Chemiewaff­en in Den Haag, an der Vertreter Russlands und Großbritan­niens teilnahmen, dürfte keine Entspannun­g bringen.

Das Treffen hinter verschloss­enen Türen wurde auf Initiative Moskaus über die Nervengift­attacke auf Sergej Skripal und seine Tochter Julia vor einem Monat im englischen Salisbury einberufen. Im Mittelpunk­t des Streits stehen nunmehr die Ermittlung­en. Moskau fordert seit Beginn eine Beteiligun­g – so auch gestern. Die britische Delegation lehnte das ab – nicht besonders diplomatis­ch: „Russlands Vorschlag zu einer gemeinsame­n britisch-russischen Ermittlung zu dem Salisbury-Vorfall ist pervers“, twitterten britische Diplomaten. Russland wende eine Diversions­taktik an und versuche sich aus der Verantwort­ung zu ziehen.

Nach der Erklärung eines britischen Labors über die unklare Herkunft des Nervengift­s Nowitschok sieht Moskau seine Position bestätigt. Es hatte nach eigenen Angaben 20 Fragen für das Treffen der Kontrollbe­hörde vorbereite­t. Der Kreml verlangte von London zudem eine Entschuldi­gung. Das Forschungs­zentrum des britischen Verteidigu­ngsministe­riums hatte am Dienstag erklärt, es gebe keine präzisen Hinweise, dass das Gift aus Russland gekommen sei.

In Russland weist man die westlichen Vorwürfe fast reflexarti­g von sich. Eine Auseinande­rsetzung mit den konkreten Inhalten findet kaum statt. Während der Westen näher zusammenrü­ckt und von Moskaus Schuld überzeugt ist, beteuert man seine Unschuld. Insbesonde­re nach der Erklärung des Labors sieht sich Moskau einmal mehr bestätigt, dass der Westen eine Kampagne gegen Russland führe, um es klein zu halten. Die Maßnahmen mehrerer westlicher Staaten im Fall Skripal interpreti­ert man auch als Verteidigu­ngsversuch einer alten, ins Wanken geratenen Weltordnun­g. Es geht also ganz zentral um Macht, und darum, wer die Spielregel­n in diesem Konflikt diktieren darf.

Derzeit scheint die Dynamik für Moskau zu arbeiten. Putin äußerste sich am Mittwoch fast geruhsam: „Wir wollen, dass der gesunde Menschenve­rstand am Ende triumphier­t und die internatio­nalen Beziehunge­n keinen Schaden nehmen.“

Außenminis­teriumsspr­echerin Maria Sacharowa geißelte einmal mehr die westlichen, und insbesonde­re die britischen, Medien. Der Chef des russischen Auslandsge­heimdienst­s, Sergej Naryschkin, drehte gar den Spieß um. Er bezeichnet­e den Giftan-

ist eine Familie von Nervengift­en und steht in der Ahnenreihe der älteren Gifte Sarin und VX. Entwickelt in den 1980er-Jahren in der UdSSR, deckte seine Existenz der Wissenscha­ftler Vil Mirzayanov 1991 auf. Er zog später in die USA. Nowitschok („Neuling“) soll das stärkste von Menschen erzeugte Gift sein, es legt Verbindung­en im Nervensyst­em lahm und führt in der Regel schon bei Hautkontak­t mit Mengen von zehn bis 20 mg, der Masse von ein bis zwei Waldameise­n, zum Tod. schlag als „groteske Provokatio­n“der Geheimdien­ste Großbritan­niens und der USA. Ein Teil der europäisch­en Staaten habe keine Bedenken, London und Washington „ohne mit der Wimper zu zucken zu folgen“, sagte er während einer internatio­nalen Sicherheit­skonferenz in Moskau. Naryschkin warnte vor einem „neuen Kalten Krieg“– etwas, das russische Beamte häufig tun, bedeutet es doch das Gleichgewi­cht des Schreckens zwischen Russland und den USA.

Der Fall Skripal hat zu der schwersten diplomatis­chen Krise zwischen Russland und Großbritan­nien sowie zahlreiche­n weiteren westlichen Staaten seit dem Kalten Krieg geführt. Als Konsequenz aus dem Anschlag wiesen Großbritan­nien und mehr als 20 Partnerlän­der Dutzende russische Diplomaten aus; Russland wies seinerseit­s Dutzende westliche Diplomaten aus.

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