Eine Machtprobe mit den Kräften von gestern
Die Anti-Reform-Streiks in Frankreich sind ein Signal für ganz Europa.
W er in Frankreich auf die Bahn angewiesen ist, hat jetzt schlechte Karten: In den nächsten drei Monaten wird der Bahnverkehr durch Streiks regelmäßig lahmgelegt werden. Aber die Bahn ist nur die Spitze: In vielen anderen staatlichen und privaten Unternehmen wird auch gestreikt.
Es geht also um viel mehr als um die Verteidigung von anderswo (etwa auch in Österreich) für neu Eintretende längst abgeschaffte Eisenbahnerprivilegien. Es geht offenbar um die große Machtprobe der in Frankreich sehr starken Gewerkschaften mit der Reformregierung Macron.
Auch um eine Art Revanche für die Arbeitsreform des vergangenen Herbstes, die relativ friktionsfrei über die Bühne gegangen war, obwohl die Gewerkschaften dagegen stark zu mobilisieren versucht hatten.
Jetzt, da die Eisenbahner die Speerspitze gegen die längst überfällige Modernisierung des Landes sind, erhofft man sich etwas mehr Mobilisierungskraft. Schließlich werden die Werktätigen ja drei Monate lang häufig damit konfrontiert, dass der Pendlerzug nicht kommt.
Ob die Solidarität des stets von Kündigung bedrohten Fabriksarbeiters nicht ein wenig überstrapaziert wird, wenn er das in Kauf nehmen muss, um den streikenden Lokführern in alle Ewigkeit 50 Tage Urlaubsanspruch, Unkündbarkeit und Rente mit 52 zu garantieren, wird eine spannende Frage. D ie noch spannendere wird aber, ob es den Gewerkschaften gelingt, die Macron-Reformen mit dieser Brachialstrategie zu kippen. Das wäre ein inferiores Signal für Europa. Denn eines muss man sehen: Die für das Machtgefüge in unserer sozialen Marktwirtschaft so wichtigen Gewerkschaften haben sich in vielen Fällen von der Speerspitze des sozialen Fortschritts zu rückwärtsgewandten Blockierern entwickelt.
Das tut weder den ohnehin abstiegsbedrohten europäischen Ländern gut noch den Gewerkschaften selbst. Die werden im digitalen Zeitalter ein Existenzproblem bekommen, wenn sie im 21. Jahrhundert eine Arbeitnehmerpolitik für das 19. Jahrhundert versuchen.