Die versuchte Zähmung machte den Mississippi noch wilder
Technik. Die Verbauung des Flusses mit dem längsten Dammsystem der Erde sollte vor Hochwassern schützen. Doch sie hat deren Gefährlichkeit respektive Häufigkeit in den vergangenen 150 Jahren stattdessen erhöht. Das zeigt eine detaillierte Rekonstruktion d
„Ungezähmt“und „unzähmbar“sei dieser Fluss, schrieb Mark Twain halb resigniert, halb bewundernd in seiner 1883 erschienenen Erzählung „Life on the Mississippi“, in der er ausführlich von seiner Ausbildung und Arbeit als Lotse auf einem Dampfschiff berichtete. Aber kurz darauf machten sich Pioniere der US-Army an die Zähmung, mit den ersten Regulierungsmaßnahmen, sie konnten aber nicht verhindern, dass 1927 ein Jahrhunderthochwasser auf der vollen Länge des Flusses 70.000 Quadratkilometer überflutete, 700.000 Menschen mussten evakuiert werden, die Ernteverluste waren gewaltig.
In der Kunst schlug sich das im Delta Blues nieder – etwa bei Memphis Minnie („When the Levee Breaks“) und Charley Patton („High Water Everywhere“) –, in der Politik im Flood Control Act, der dafür sorgte, dass ab 1928 das längste Dammsystem der Erde aus dem Boden gestampft wurde. Aber auch das konnte nicht verhindern, dass 1993 und 2011 wieder „hundertjährliche“Hochwasser kamen, von denen es per Definition im Schnitt nur eines pro Jahrhundert geben sollte. Liegt das einfach an der Unzähmbarkeit des Mississippi? Ökologen vermuten schon lange, dass die Einzwängung des Flusses mehr Schaden als Nutzen angerichtet hat, aber bisher gab es keine Daten, die weit und präzise genug in die Vergangenheit zurückreichten.
Archive der Sedimente und Eichen
Nun hat Samuel Munoz (Woods Hole) eine Rekonstruktion versucht, am Oberlauf mit der Hilfe von grobkörnigen Sedimenten, die von Hochwassern über das Land verfrachtet wurden und in Seen und Sümpfen liegen blieben, auch in solchen, die durch Flussbe- gradigungen entstanden sind. Datiert wurde mit optisch stimulierter Lumineszenz, die zeigt, wann ein Material das letzte Mal dem Sonnenlicht ausgesetzt war.
Am Unterlauf halfen Bäume, Eichen vor allem, deren Jahresringe Hochwasser archiviert haben. Diese Daten wurden abgeglichen mit den zwei großen Klimamaschinen, die für Starkregen im Einzugsgebiet des Flusses sorgen: Dazu müssen El Nin˜o über dem Pazifik und Atlantische Multidekaden-Oszillation zusammenkommen. Das tun sie nicht oft, aber sie haben es immer schon getan, etwa 1543, dieses Hochwasser wurde als Erstes aufgezeichnet, von den spanischen Konquistadoren. Es wird auch von den Sedimenten und Jahresringen bezeugt.
Aber in der Folge bieten die ein viel detaillierteres Bild als die Aufzeichnungen, vor allem für die letzten 150 Jahre: In denen kamen um 20 Prozent mehr große Hochwasser als im Durchschnitt der letzten 500 Jahre. Und sie kamen aus dem – vor allem zum Schutz der Landwirtschaft – verbauten Oberlauf mit besonderer Wucht weiter unten an, und sie brachten nicht nur Wasser, sondern auch Dünger von den Feldern, der die „Todeszone“vor dem Delta erweiterte, die heißt so, weil das überdüngte Wasser die Algen so lange hat blühen lassen, bis kaum mehr Sauerstoff im Wasser war (Nature 4. 4.).
„Die Verbauung des Flusses hat die Flutgefahr für den unteren Mississippi auf Werte erhöht, die präzedenzlos sind in den letzten fünf Jahrhunderten“, schließen die Forscher. Das nächste Hundertjährliche wird also wieder in weniger als 100 Jahren kommen – und auch in der Musik für eine Fortsetzung der Klagelieder sorgen: Bob Dylan hat, aus welcher Weitsicht immer, in sein aktuelles Konzertprogramm den Song „High Water (for Charley Patton)“aufgenommen.