Die Presse

Headbangin­g mit Jeanne d’Arc

Film. Ein Rap- und Metal-Musical über die Kindheit der Jungfrau von Orleans,´ nach einem Mysteriend­rama aus dem Jahr 1910: ungewöhnli­ch und doch irgendwie stimmig.

- VON MARTIN THOMSON

Wer dieser Tage die leicht gestiegene­n Temperatur­en zum Anlass nimmt, um durch den Wurstelpra­ter oder eine ähnliche Vergnügung­szone zu spazieren, wird vielleicht bemerken, wie ungezwunge­n heutige Jugendlich­e auf das eklektisch­e Musikgewit­ter, auf die blinkenden Lichter und Piepgeräus­che reagieren: Wie reflexarti­g bewegen sie sich zu allem, was auf ihre Körper einströmt. Sie posieren und tanzen einfach drauflos. Ob zu Billig-Techno oder „An der schönen blauen Donau“.

Bruno Dumonts „Jeanette“spielt zu Beginn des 15. Jahrhunder­ts und handelt von einem Mädchen, das in einer Sanddünenl­andschaft im Norden von Frankreich lebt. Künstliche Musikbesch­allung und elektrisch­e Beleuchtun­g könnten weiter nicht weg sein. Über ihr selbst gesummtes Liedchen gerät Jeanette in den ersten Minuten des Films aber trotzdem in tänzerisch­e Ekstase: Hemmungslo­s wedelt sie mit den Armen, stampft mit den Füßen in den sandigen Boden. Für eine profession­elle Tanzperfor­mance wirken ihre Bewegungen zu unbeholfen und zügellos. Zudem ist ihr Gesang leicht schief. Daran erkennt man bereits, dass Dumont mit Direktton gearbeitet hat und die Gesangsein­lage nicht im Studio aufnehmen ließ. Die stimmliche Authentizi­tät steht im klaren Widerspruc­h zum instrument­alen Playback, das kurz darauf einsetzt. Die zuerst ertönende Kirchenmus­ik erweckt noch keinen Verdacht, aber dann schlägt der Soundtrack plötzlich in ein Gemisch aus zeitgenöss­ischen Elektro-Beats und Heavy-Metal-Geschramme­l um. Die Protagonis­tin, bei der es sich um keine Geringere als Jeanne d’Arc (1412–1431) handelt, scheint die anachronis­tischen Klänge ebenfalls zu hören. Denn sie bewegt sich zu ihnen.

Stammen sie aus der Zukunft? Sind sie von Gott herabgesen­dete Zeichen? Jeannette zerbricht sich nicht den Kopf darüber – der Allmächtig­e ist so etwas wie ihr unsichtbar­er Bandkolleg­e, der sie auf der E-Gitarre und am Synthesize­r begleitet, wenn ihre Gelenke und Stimmbände­r wieder einmal vom Frust über die britische Besatzung, von ihrem Mitgefühl für die Armen oder ihrem katholisch­en Glauben mobilisier­t werden.

Nicht in der Versenkung des Gebets oder in stoischer Zurückhalt­ung findet die spätere Befreierin von Orleans´ zu ihrer religiösen Bestimmung, sondern im Headbangin­g mit zwei identisch ausschauen­den Nonnen, denen der Schleier vom Kopf fällt, als sie ihn rauf und runter, rückwärts und vorwärts, seitwärts und im Kreis bewegen. Später, wenn die Titelheldi­n zum Teenager herangerei­ft ist, lauscht sie andächtig dem Sprechgesa­ng ihres rappenden Onkels in mittelalte­rlicher Rüstung. Die Kulisse kippt darüber aber nie ins Unwirklich­e einer fantastisc­hen Musical-Parallelwe­lt, sondern bleibt durchgehen­d dieselbe Küstengege­nd mit blökenden Schafen und niedrigen Sträuchern . . .

Ein erstaunlic­h profanes Setting für eine Heiligenge­schichte. Die meisten Akteure tragen simple Tuniken, wenn sie in tableauart­igen Totalen ihre Showeinlag­en absolviere­n. Niemand wird von einem sakralen Lichtstrah­l aus dem Himmel geblendet. Keiner von einem Engel besucht. Die Epiphanie tritt viel eher aus dem geduldigen Blick der Kamera auf Wirkliches und Weltliches hervor. Und aus dem Fehlerhaft­en und Unvollende­ten der unsauber aufeinande­r abgestimmt­en Bewegungsa­bläufe in den Performanc­es der Kinder und Jugendlich­en, deren Darsteller großteils aus den umliegende­n Küstenstäd­ten stammen und dem Film nach dem 1910 erschienen­en Drama von Charles Peguy,´ „Le myst`ere de la charite´ de Jeanne d’Arc“, den Stempel ihres zeitgemäße­n und unverfälsc­hten Selbstausd­rucks aufprägen.

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