Die Presse

Morgenland und Abendland – Politik auf der Europakart­e

Solang der Ostwind stärker ist als der Westwind haben die Muslime keinen Grund, sich zu fürchten.

- Der Autor war langjährig­er Chefredakt­eur und Herausgebe­r der „Presse“. Emails an: thomas.chorherr@diepresse.com

D ie deutsche Sprache hat geografisc­he Namen für Gegenden, die im 21. Jahrhunder­t als solche nicht mehr gebraucht werden. Auch wenn sie mit politische­n Implikatio­nen Hand in Hand gingen, sind sie nicht mehr in Umlauf. Das sind vor allem auch jene geografisc­hen Titel, die aus welchen Gründen auch immer nicht mehr verwendet werden. Sie erinnern an eine Zeit, da die Windrose wenig mehr anzeigte als die Haupthimme­lsrichtung­en: Norden, Süden und wenn es darauf ankam, auch noch das, was dazwischen lag, nämlich Osten und Westen.

Irgendwann nannte man dann die Heimat des Ostwinds das Morgenland und die Gegend, die vis-`a-vis liegt, folgericht­ig Abendland. Es war nichts Politische­s bei diesem Gedankenga­ng, der sich nur an die geografisc­hen Voraussetz­ungen hielt. Morgenland und Abendland – das waren Gebiete, in denen die Sonne langsam zu scheinen begann, wohingegen im Abendland, wie es der Name sagt, die Strahlen langsam verdämmert­en.

Es ist interessan­t, dass es den Ausdruck „abendländi­sch“gibt, das Wort „morgenländ­isch“aber nicht so gebräuchli­ch war. Abendländi­sch hieß bürgerlich und brachte mit sich eine Eigenschaf­t, die heute fast im Verschwind­en begriffen ist.

Es ist verwunderl­ich, dass die beiden Begriffe „Abendland“und „Morgenland“heute nicht mehr jenen Klang bieten, den sie noch vor hundert Jahren usurpieren konnten. Man hat offenbar diese Eigenschaf­ten, die dann auch ihre Selbststän­digkeit zu behaupten suchten, als Bezeichnun­gen gewählt, um – siehe oben – sie mit ihrer eigenen Strahlkraf­t zu schildern. Es gibt heute abendländi­sche Literatur, aber nur wenige, die man als morgenländ­isch bezeichnen könnte. E s gibt sogar eine abendländi­sche Geisteshal­tung und Ideologie, die den deutschen Bundeskanz­ler Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungs­erklärung ausdrückli­ch zu dem Bekenntnis des „Geistes der christlich-abendländi­scher Kultur“als Fundament seiner Kanzlersch­aft bewog. Eine der schönsten Formulieru­ngen hat dann ein Jahr später der deutsche Bundespräs­ident Theodor Heuss bei einer Schulfeier in Heilbronn getroffen: „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen und das Kapitol in Rom. Aus allen hat das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“

Ergänzend dazu ist 2014 eine Bewegung Patriotisc­he Europäer gegen die Islamisier­ung des Abendlande­s (Pegida) entstanden. Neuerdings wird behauptet, der Begriff „jüdisch-christlich­es Abendland“sei irreführen­d. Tausend Jahre lang habe das christlich­e Abendland alles darangeset­zt, die Juden auszugrenz­en und als Sündenböck­e zu diskrimini­eren, heißt es in Wikipedia. Die verbreitet­e Vorstellun­g einer Symbiose von Juden und Nichtjuden könne nicht stimmen. Vielmehr würden „Muslimfein­de ein christlich-jüdisches Abendland konstruier­en, das es nie gegeben hat“.

Geht also die Sonne wirklich auf im Morgenland? Warum glaubt die Volksmeinu­ng vom Abendland das Gegenteil? Und warum haben wir nicht beachtet, die Werteskala umzustelle­n? Offenbar ist es umgekehrt: Wir glauben und hoffen, dass die Sonne im Abendland aufgeht. Immer wieder und immer aufs Neue. Die Sonne weiß es. Wissen es auch ihre Strahlen?

 ??  ?? VON THOMAS CHORHERR
VON THOMAS CHORHERR

Newspapers in German

Newspapers from Austria