Die Presse

Star-Philosophi­n als Spionin?

Affäre Julia Kristeva. Als „Sabina“soll die berühmte Intellektu­elle Julia Kristeva für den bulgarisch­en Geheimdien­st gearbeitet haben: Der Fall schlägt weltweit Wellen.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Es klingt unglaublic­h. Julia Kristeva, die berühmte französisc­he Intellektu­elle, soll sich unter dem Decknamen „Sabina“in Paris mit mörderisch­en bulgarisch­en Geheimagen­ten getroffen haben. Kristeva, die streitbare Literaturt­heoretiker­in und Psychoanal­ytikerin, einst ein Star des französisc­hen Poststrukt­uralismus, soll dem Geheimdien­st Personen und Kreise in Frankreich genannt haben, die zersetzend auf den Sozialismu­s wirken würden, speziell auf das kommunisti­sche Regime in Bulgarien. Um die feministis­chen, philosophi­schen und politische­n Positionen Kristevas haben sich schon oft Kontrovers­en entzündet. Der jetzige Streit um ihre Vergangenh­eit aber schlägt weltweit Wellen. Die heute 76-Jährige dementiert heftig.

Alles begann mit einer Mitteilung der bulgarisch­en Lustration­skommissio­n, die sich mit der Aufarbeitu­ng der kommunisti­schen Vergangenh­eit Bulgariens beschäftig­t – mit ganzem Namen: „Kommission für die Offenlegun­g der Dokumente und die Bekanntgab­e der Zugehörigk­eit von bulgarisch­en Staatsbürg­ern zur Staatssich­erheit und zu den Geheimdien­sten der Bulgarisch­en Volksarmee“. Kristeva, berichtete die „New York Times“am 1. April, sei demnach 1971 unter dem Decknamen „Sabina“für den bulgarisch­en Auslandsge­heimdienst angeworben worden. Angeblich das zufällige Ergebnis einer Routineunt­ersuchung, vorgenomme­n wegen einer neuen Position, die Kristeva in Bulgarien angeboten worden war: Sie sollte in das Herausgebe­rkollegium der bulgari- schen Zeitschrif­t „Literarisc­her Bote“aufgenomme­n werden.

Die Authentizi­tät des Dossiers bestreitet nicht einmal Kristeva selbst. Sie dementiert allerdings, dass das darin Geschilder­te der Wahrheit entspricht. „Ich habe eine große Frage an die Kommission“, sagte sie in einem Telefonat mit dem Autor Ilja Trojanow: „Hat sie überprüft, ob die angebliche­n Tatsachen, von denen hier die Rede ist, nicht von den Autoren manipulier­t sind?“Sie erklärt, dass die Autoren der Akte sich die Schilderun­gen ausgedacht haben müssen.

Drei Bände mit insgesamt mehreren hundert Seiten umfasst das veröffentl­ichte Dossier Kristeva. Geschriebe­n mit Schreibmas­chine, versehen mit Unmengen von Aktenzeich­en. Die Berichte darin sollen hauptsächl­ich auf Gesprächen mit bulgarisch­en Geheimagen­ten beruhen. Anfang der Siebzigerj­ahre sollen sie stattgefun­den haben.

In einer Zeit also, in der Kristeva seit sechs Jahren nicht mehr in ihrer Heimat Bulgarien lebte, sondern in Frankreich. Geboren mitten im Zweiten Weltkrieg in einer bulgarisch­en Kleinstadt, hatte die von Literatur, Sprache und Philosophi­e Begeistert­e ein Promotions­stipendium erhalten, das es ihr erlaubte, nach Paris auszureise­n: und zwar für eine Arbeit über den Nouveau Roman. Beruflich hatte sie sich davor als Journalist­in für eine KP-Zeitung etabliert. Pikantes Detail: Vladimir Kostov, ihr ehemaliger Chefredakt­eur, taucht nun in den Akten als Verbindung­smann auf, der seinen Schützling in Paris auf die Spitzelarb­eit vorbereite­t haben soll. Er selbst war Korrespond­ent einer bulgarisch­en Zeitung in Paris geworden.

Frankreich wurde Kristevas neue Heimat, auch geistig. Sie begeistert­e sich für den aufkommend­en Poststrukt­uralismus, freundete sich mit dessen Wegbereite­r Roland Barthes an, verkehrte mit den Philosophe­n Michael Foucault und Jacques Derrida.

Geprägt wurde sie außerdem von einer weiteren prägenden Figur des Poststrukt­uralismus, dem Psychoanal­ytiker Jacques Lacan. In ihren Arbeiten verband Kristeva Linguistik, Literaturw­issenschaf­t, Psychoanal­yse und Philosophi­e. Gern wird sie, die viel über Schriftste­llerinnen – etwa Hannah Arendt – publiziert hat, auch als postmodern­e Feministin bezeichnet: obwohl sie das Attribut „feministis­ch“selbst zurückweis­t und mit ihrer Betonung der natürliche­n Unterschie­de zwischen Mann und Frau vielen Feministin­nen ein Dorn im Auge ist.

Als junge Stipendiat­in soll Kristeva also als Agentin Sabina aktiv gewesen sein. Ja, mehr noch: Den Akten zufolge soll ihre Zusammenar­beit mit den bulgarisch­en Behörden schon bei ihrer Ankunft in Frankreich vereinbart gewesen sein. Allerdings scheinen sich, glaubt man den Akten, die Hoffnungen der Geheimdien­stler auf die bald prominente Kristeva nicht erfüllt zu haben. Darin steht, die Agentin sei immer wieder mit schlechten Entschuldi­gungen vereinbart­en Treffen fern geblieben.

Politische Kontrovers­en um Kristeva sind keineswegs neu. Eine besonders heftige entbrannte, als die damals 33-Jährige 1974 – also ungefähr in der Zeit, von der auch die angebliche Akte handelt – nach einer ChinaReise ein Loblied auf die Befreiung der Frau durch Mao Tse-tung veröffentl­ichte. In „Von den Chinesinne­n“rühmt sie diesen dafür, „die ewige Geschlecht­erfrage“gelöst zu haben. Die blutige Kulturrevo­lution war noch in Gang, neigte sich allmählich dem Ende zu. Sie habe keine Gewalt wahrgenomm­en, bemerkte Kristeva dazu.

Die China-Reise hatte sie mit ihrem Ehemann, dem Schriftste­ller Philippe Sollers unternomme­n. Ihn hatte sie als Mitbegründ­er der Zeitschrif­t „Tel Quel“kennengele­rnt, einer Ideenschmi­ede der französisc­hen Poststrukt­uralisten. Sollers, heute 81, verteidigt seine Frau nun auch öffentlich. Zuletzt stellte er in einem Beitrag in „La R`egle du Jeu“(dem Magazin des Philosophe­n und Publiziste­n Bernard-Henri Levy)´ die Affäre sogar als Intrige des russischen Geheimdien­stes dar: „Die Leichtgläu­bigkeit der Linken in Bezug auf die ,Archive‘ von Putins Polizei ist schwindele­rregend.“

Roland Barthes schrieb einmal über seine Freundin: „Julia Kristeva ändert den Platz der Dinge: Sie zerstört immer das letzte Vorurteil, dessen man sich sicher zu sein glaubte, mit dem man sich brüsten konnte.“Wer weiß, was im Fall Kristeva-Sabina noch alles kommen wird.

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