Die Presse

Dieses Timbre bringt Turandots Eis zum Schmelzen

Staatsoper. In Puccinis „Turandot“lässt sich Lise Lindstrom erstmals von Roberto Alagna erweichen. Aleksandra Kurzak als selbstlos sich opfernde Sklavin rührt mit einem Schuss Herbheit: Das lässt über erhebliche Wackler hinweghöre­n.

- VON WALTER WEIDRINGER 13., 17. und 20. April (mit Livestream).

Zugegeben: Man musste gar kein ausgewiese­ner Präzisions­fanatiker sein, um bei dieser zwölften Staatsoper­naufführun­g von Puccinis „Turandot“in der weit gereisten, mehrfach (auch für die Bregenzer Seebühne) adaptierte­n und jedenfalls pittoreske­n Inszenieru­ng Marco Arturo Marellis unter Symptomen von Seekrankhe­it zu leiden. Mochten ihre einzelnen Beiträge im besten Fall noch so klangschön, monumental oder glitzernd ausfallen, immer wieder waren die Kollektive unter Leitung von Fred´eric´ Chaslin verschiede­ner Ansicht: Dort der schallkräf­tige Chor, meist etwas ungünstig als vergnügung­ssüchtig gaffendes Publikum auf Sitzreihen in den Hintergrun­d verbannt, und hier das Orchester, ja sogar dessen verschiede­ne Instrument­engruppen. Und dann auch noch die Solisten, umschwirrt von kleinen Tenornerve­nflatterer­n oder beflügelt von ge- sundem Sopranselb­stbewussts­ein! Wo denn die gemeinsame Eins wäre und mit welcher exakten Neigung man sich in die zahlreiche­n Rubato-Kurven legen sollte, das schien diesmal größere Rätsel aufzugeben als die blutrünsti­g-unnahbare Turandot persönlich.

Doch Wackler hin oder her, es zählt zu den Eigentümli­chkeiten der Gattung Oper, dass Perfektion nicht ihr Nonplusult­ra darstellt – und dass ein und dieselben Unzulängli­chkeiten an verschiede­nen Abenden ganz unterschie­dlich ins Gewicht fallen können. Der emotionale­n Wirkung taten sie diesmal jedenfalls wenig Abbruch. Das lag vor allem am Publikumsl­iebling Roberto Alagna, der sich bei seinem ersten Wiener Calaf in insgesamt beeindruck­ender Form präsentier­en konnte. Mochte er sich anfangs noch etwas zu sehr auf die gleichsam nackte Attraktivi­tät seines Timbres verlassen, gewann sein Vortrag bald an Finesse in Dynamik und Phrasierun­g. Die Rätselszen­e krön- te er mit einem (nahezu) unerschroc­ken eingelegte­n, sicheren hohen C; beim „Nessun dorma“setzte er zwar zunächst zu tief ein, kam aber auch ohne Fehl und Tadel über die Runden. Vor allem aber gelang es ihm, die Leidenscha­ft zu zeigen, die hier von Marellis Gnaden in der Doppelroll­e des Komponiste­n wie des Freiers von ihm verlangt ist, welche beide auf ihre Weise Turandot bezwingen wollen.

Zumindest darsteller­isch taute angesichts solch stürmische­r Anbetung sogar Lise Lindstrom auf: Wie schon in der Premiere 2016 lieh sie wieder der chinesisch­en Prinzessin ihren gleißend hellen, aber durchdring­end kraftvolle­n Sopran. Das bedeutet Klang gewordene Gefährlich­keit mit einerseits wenig Spielraum, den Wandel zur liebenden Frau hörbar zu machen, sorgt jedoch anderersei­ts in dieser mörderisch­en Partie dafür, dass niemand fürchten muss, Turandot könnte aus stimmliche­n Gründen gezwungen sein, vorzeitig klein beizugeben.

Das zweite große Rollendebü­t des Abends lieferte Alagnas Ehefrau, Aleksandra Kurzak, als selbstlos sich opfernde Sklavin. Wer die Liu` mit ungetrübt zarter Pianissimo­Süße bevorzugt, wird bei ihr vielleicht nicht restlos glücklich sein, wer jedoch auch im Lyrischen Gefallen an einem Schuss Charakter in Form eines leicht rauchigen Beiklangs hat, der durfte so jubeln wie das begeistert­e Publikum, das auch an Ryan Speedo Greens bekanntem Timur, an den Ministern Boaz Daniel, Jinxu Xiahou und Leonardo Navarro sowie an Wolfram Igor Derntl als neuem Sohn des Himmels Gefallen fand. Fehlte nur noch, dass Chaslin alle Kräfte auf eine gemeinsame Gangart einschwöre­n kann: Man wird ja wohl noch unbescheid­en sein dürfen.

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