Dieses Timbre bringt Turandots Eis zum Schmelzen
Staatsoper. In Puccinis „Turandot“lässt sich Lise Lindstrom erstmals von Roberto Alagna erweichen. Aleksandra Kurzak als selbstlos sich opfernde Sklavin rührt mit einem Schuss Herbheit: Das lässt über erhebliche Wackler hinweghören.
Zugegeben: Man musste gar kein ausgewiesener Präzisionsfanatiker sein, um bei dieser zwölften Staatsopernaufführung von Puccinis „Turandot“in der weit gereisten, mehrfach (auch für die Bregenzer Seebühne) adaptierten und jedenfalls pittoresken Inszenierung Marco Arturo Marellis unter Symptomen von Seekrankheit zu leiden. Mochten ihre einzelnen Beiträge im besten Fall noch so klangschön, monumental oder glitzernd ausfallen, immer wieder waren die Kollektive unter Leitung von Fred´eric´ Chaslin verschiedener Ansicht: Dort der schallkräftige Chor, meist etwas ungünstig als vergnügungssüchtig gaffendes Publikum auf Sitzreihen in den Hintergrund verbannt, und hier das Orchester, ja sogar dessen verschiedene Instrumentengruppen. Und dann auch noch die Solisten, umschwirrt von kleinen Tenornervenflatterern oder beflügelt von ge- sundem Sopranselbstbewusstsein! Wo denn die gemeinsame Eins wäre und mit welcher exakten Neigung man sich in die zahlreichen Rubato-Kurven legen sollte, das schien diesmal größere Rätsel aufzugeben als die blutrünstig-unnahbare Turandot persönlich.
Doch Wackler hin oder her, es zählt zu den Eigentümlichkeiten der Gattung Oper, dass Perfektion nicht ihr Nonplusultra darstellt – und dass ein und dieselben Unzulänglichkeiten an verschiedenen Abenden ganz unterschiedlich ins Gewicht fallen können. Der emotionalen Wirkung taten sie diesmal jedenfalls wenig Abbruch. Das lag vor allem am Publikumsliebling Roberto Alagna, der sich bei seinem ersten Wiener Calaf in insgesamt beeindruckender Form präsentieren konnte. Mochte er sich anfangs noch etwas zu sehr auf die gleichsam nackte Attraktivität seines Timbres verlassen, gewann sein Vortrag bald an Finesse in Dynamik und Phrasierung. Die Rätselszene krön- te er mit einem (nahezu) unerschrocken eingelegten, sicheren hohen C; beim „Nessun dorma“setzte er zwar zunächst zu tief ein, kam aber auch ohne Fehl und Tadel über die Runden. Vor allem aber gelang es ihm, die Leidenschaft zu zeigen, die hier von Marellis Gnaden in der Doppelrolle des Komponisten wie des Freiers von ihm verlangt ist, welche beide auf ihre Weise Turandot bezwingen wollen.
Zumindest darstellerisch taute angesichts solch stürmischer Anbetung sogar Lise Lindstrom auf: Wie schon in der Premiere 2016 lieh sie wieder der chinesischen Prinzessin ihren gleißend hellen, aber durchdringend kraftvollen Sopran. Das bedeutet Klang gewordene Gefährlichkeit mit einerseits wenig Spielraum, den Wandel zur liebenden Frau hörbar zu machen, sorgt jedoch andererseits in dieser mörderischen Partie dafür, dass niemand fürchten muss, Turandot könnte aus stimmlichen Gründen gezwungen sein, vorzeitig klein beizugeben.
Das zweite große Rollendebüt des Abends lieferte Alagnas Ehefrau, Aleksandra Kurzak, als selbstlos sich opfernde Sklavin. Wer die Liu` mit ungetrübt zarter PianissimoSüße bevorzugt, wird bei ihr vielleicht nicht restlos glücklich sein, wer jedoch auch im Lyrischen Gefallen an einem Schuss Charakter in Form eines leicht rauchigen Beiklangs hat, der durfte so jubeln wie das begeisterte Publikum, das auch an Ryan Speedo Greens bekanntem Timur, an den Ministern Boaz Daniel, Jinxu Xiahou und Leonardo Navarro sowie an Wolfram Igor Derntl als neuem Sohn des Himmels Gefallen fand. Fehlte nur noch, dass Chaslin alle Kräfte auf eine gemeinsame Gangart einschwören kann: Man wird ja wohl noch unbescheiden sein dürfen.