Banale Mathematikmatura
Ich stehe täglich in der Klasse, ich weiß, wovon ich rede: Unsere neue Mathematik-Matura bedroht dramatisch die Studierfähigkeit! Über das abgehobene, modische Kompetenzgefasel und andere Ausdünnungen.
Tomas Kubelik über die neue Mathematikmatura und ihre Defizite.
Gilt Mathematik denn nicht als exakteste aller Wissenschaften? Und als eine der Grundlagen unserer Zivilisation? Umweht sie nicht zu Recht der Nimbus kühler Rationalität, der auf unbestechlicher Logik beruhenden Kalküle? Stellt ihre Relevanz denn irgendwer infrage? Müsste es daher nicht ein Einfaches sein, im entsprechenden Schulfach zentrale Prüfungen zu erstellen, die ein hohes Niveau garantieren und deren Beurteilung die strengsten Kriterien von Vergleichbarkeit und Objektivität erfüllen?
So denkt wohl der Laie. Und der Theoretiker, der sitzt weitab von Kreidestaub und Schullärm in seinem Büro und ersinnt solche Aufgaben: für alle Gymnasien Österreichs gleiche, fachlich anspruchsvolle, eindeutig zu lösende, eindeutig zu beurteilende. Und die Öffentlichkeit, die das bezahlt, die kann sich beruhigt zurücklehnen in dem Wissen: Endlich haben wir eine Reifeprüfung, bei der die Kandidaten nicht mehr den Launen der Lehrkraft ausgeliefert sind und verstaubte Inhalte wiederkäuen müssen. Nun entwickeln hoch qualifizierte Experten – Pädagogen, Fachdidaktiker und Testpsychologen – Prüfungen, die nicht nur in höchstem Maße gerecht sind, sondern auch auf die Anforderungen einer „hoch differenzierten, arbeitsteilig organisierten, demokratischen Gesellschaft“vorbereiten, wie es im entsprechenden Grundlagenpapier heißt. Doch der Schein trügt.
Um zu verstehen, welcher verheerende Paradigmenwechsel in den vergangenen Jahren das österreichische Bildungswesen erfasst hat, ist für die Uneingeweihten ein kleiner bildungstheoretischer Exkurs in die Abgründe des herrschenden Zeitgeistes unvermeidlich. Denn dort entspringt jene revolutionäre Energie, die wohl zur größten Frustration der letzten Jahrzehnte unter Österreichs Lehrern geführt hat. Und um eine Revolution handelt es sich allemal, was derzeit die Schulen heimsucht. Fast alle Prinzipien des Unterrichtens und Prüfens, die sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt hatten, wurden über den Haufen geworfen. Und nun? Niemand weiß, wie dieser Feldversuch ausgeht. Wir alle sind Versuchskaninchen in einem großen Labor, das längst nicht auf die Schule beschränkt ist. Wie viele fähige Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker werden wir in unserem Land in einer Generation noch haben? Wie sieht es mit dem Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort künftig aus, wenn inhaltliche Substanz derart dramatisch verloren geht und die Banalität Einzug hält?
Nun aber der Reihe nach: Die derzeit dominante Bildungsideologie hört auf den Namen „Kompetenz“. Vereinfacht gesprochen geht es um Folgendes: Kompetenzen werden verstanden als jederzeit und verlässlich abrufbare, isolierte Wissens- und Könnenshäppchen. All das, was den Menschen tiefer prägt und das fördert, was früher Bildung hieß, wird ausgeklammert. Und was bisher als hochkomplexer und nie vollendeter Vorgang des Erwerbs von Wissen und Können galt, diese nie ganz zu entwirrende Mischung aus Intuition, Vorstellung, Auswendiglernen, Zuhören, Probieren, Emotion, Training und Nachdenken, wird reduziert auf ein simples ReizReaktions-Schema. Dabei werden die Wissensinhalte in winzige Portionen zerstückelt, die dann häufig durch reine Ja-NeinFragen abgeprüft werden. Diese Praxis beherrscht mittlerweile den gesamten Gymnasialunterricht. Ich muss jedes Mal über die pädagogische Ahnungslosigkeit lachen, wenn ich in Schulbüchern die neuen, modischen Kompetenzlisten lese, wo es heißt: „Ich kann . . .“und „Ich weiß . . .“
Wer mit Kindern und ihren Lernprozessen zu tun hat, weiß, dass es ein „Ich kann“nie wirklich gibt. Die Beherrschung eines Gegenstands und damit verbunden die Fähigkeit, eine bestimmte Aufgabe zu lösen, hängen von unzähligen, oft scheinbar nebensächlichen Faktoren ab. Emotionen spielen eine große Rolle. Ein vertrauter Kontext und das damit verbundene Glück des Wiedererkennens eine andere. Die durch Übung erkämpfte Routine eine weitere. Lernen ist wie eine Irrfahrt auf hoher See. Und selbst der Begabteste und Fleißigste durchschaut eine Sache stets nur auf einem gewissen, unvollkommenen Niveau.
Dennoch sind viele Mathematikaufgaben derzeit im Multiple-Choice-Format oder im sogenannten Zuordnungsformat formuliert. Immer wieder frage ich mich: Was treibt einen Menschen an, das Verständnis oder das Können eines anderen mit einem solchen Korsett überprüfen zu wollen, bei dem von fünf möglichen Antworten genau die zwei richtigen anzukreuzen sind? Oder wo aus sechs gegebenen Informationen die vier richtigen ausgewählt und den passenden Kästchen zugeordnet werden müssen? Fast alles spricht gegen solche Aufgaben. Erstens: Sie werden als ganze nur als richtig oder falsch gewertet: Ein kleiner Flüchtigkeitsfehler, eine Ungenauigkeit beim Lesen, ein punktuelles Verwechseln irgendwelcher Größen, Definitionen oder Relationen hat dieselbe Konsequenz wie vollkommene Ahnungslosigkeit: 0 Punkte! Zweitens: MultipleChoice-Aufgaben verlangen keine Aktivität, sondern geschicktes Auswählen; das ist psychologisch gesehen natürlich etwas vollkommen anderes. Nicht umsonst empfiehlt jeder Lehrer seinen Kandidaten im Zweifelsfall „nach dem Ausschlussverfahren“vorzugehen. Und natürlich müssen – um die Aufgabe für die Mehrheit doch bewältigbar zu machen – manche der Antwortmöglichkeiten so abwegig sein, dass man sie leicht ausschließen kann.
Was also wird getestet? Fundiertes Wissen und Können? Als ob man geistige Fähigkeiten und Denkanstrengungen isolieren und anhand der Reaktionen auf ein ausgefeiltes Prüfungsformat ermitteln könnte! Dennoch hat sich dieser Glaube, Wissen und Verstehen könnten in winzige Einheiten zerlegt und dann durch kleinschrittige Fragestellungen überprüft werden, durchgesetzt. Konsequenterweise gibt es bei der neuen Matura pro Aufgabe generell auch nur einen Punkt, und es darf auch nur eine Kompetenz abgeprüft werden – zumindest im entscheidenden ersten Teil. Hinter all dem steckt die Absicht, bloß objektiv messbare und vergleichbare Leistungen zu überprüfen. Der Komplexität
Wie viele fähige Naturwissenschaftler und Ingenieure werden wir in einer Generation noch haben? Wissenschafts-, Wirtschaftsstandort: ade!
menschlichen Denkens wird man durch eine solche Reduktion freilich nicht gerecht. Menschen sind keine Maschinen, die entweder richtig oder falsch programmiert sind, die über eine Kompetenz entweder verfügen oder nicht, deren Antworten auf gestellte Aufgaben eindeutig zutreffend sind oder nicht.
Diese Denkweise ist ein Erbe des Behaviorismus und eines vulgären Effizienzdenkens: Wir können Lernprozesse exakt planen und steuern, wir können Kompetenzen definieren, durch entsprechende Methoden herstellen und objektiv messen. Dabei wird alles, was vordergründig unnütz oder nicht präzise messbar ist, über Bord geschmissen, uns geht es nur um das Brauchbare, Verwertbare und Messbare. Im Fach Deutsch bedeutet es das Ende ernst zu nehmenden Literaturunterrichts und einen Triumph journalistischer Textsorten. Im Fach Mathematik einen mit der Brechstange zu erzwingenden Anwendungsbezug auch noch der dürftigsten mathematischen Inhalte. Das alles lässt sich bequem als sinnvoll und notwendig begründen, soll doch die Schule auf das Leben vorbereiten, nicht wahr? Und wenn das Gesamtergebnis nicht zu sehr vom angesteuerten Durchschnitt abweicht, können die Prüfungen medial als Erfolg vermarktet werden. Keinen Politiker, keinen Journalisten und keinen Wähler interessiert dann mehr, was da eigentlich geprüft wird, wie relevant das Ganze ist und wie objektiv die Beurteilung.
Denn tatsächlich gestaltet sich die Beurteilung der Klausurarbeiten trotz vorgegebener Lösungserwartung als ein Problem. Sie ist weit entfernt von seriöser Vergleichbarkeit. Und das nicht deswegen, weil praktisch jede Beurteilung einen Ermessensspielraum braucht, sondern weil die Auswirkungen einer Entscheidung oft gravierender sind als in herkömmlichen Systemen. Wirklich schmerzhaft wird die Korrektur allerdings durch die Ungleichbehandlung der erreichten Punkte. Denn bekanntlich ist die Mathematik-Klausur zweigeteilt. Und nur vier ausgewählte Punkte aus Teil 2 werden dem entscheidenden ersten Teil angerechnet. Wer dabei insgesamt weniger als 16 Punkte erreicht, hat nicht bestanden, ganz gleich, wie viele andere Aufgaben aus Teil 2 er richtig gelöst hat. Ich hatte vergangenes Jahr zwei Kandidaten mit derselben Punktezahl. Der eine bestand, der andere fiel durch. Und das nur deshalb, weil der eine aus einem Schaubild den richtigen Wert ablesen konnte, dafür bei einer anderen Aufgabe beim Ablesen und Deuten eines Funktionswerts gescheitert ist; beim zweiten Kandidaten war es leider umgekehrt, daher Nicht genügend.
Um zu verstehen, was da eigentlich geschieht, muss man einen Blick auf die theoretischen Grundlagen der neuen Matura werfen. Schnell wird klar: Hochtrabende Phrasen sollen inhaltliche Leere verdecken. Oder glaubt wirklich jemand, es mit einer tiefsinnigen bildungstheoretischen Einsicht zu tun zu haben, wenn er liest, unter mathematischer Grundbildung werde die Fähigkeit einer Person verstanden, „die Rolle zu erkennen und zu verstehen, die Mathematik in der Welt spielt, fundierte mathematische Urteile abzugeben und sich auf eine Weise mit der Mathematik zu befassen, die den Anforderungen des gegenwärtigen und künftigen Lebens dieser Person als konstruktivem, engagiertem und reflektierendem Bürger entspricht“? Oder wenn behauptet wird, die „Befähigung zur Kommunikation mit Expertinnen und Experten und der Allgemeinheit“sei das Hauptproblem mathematischer Grundbildung, „mit dem mündige Bürger/innen in unserer arbeitsteilig organisierten, demokratischen Gesellschaft immer wieder konfrontiert werden“?
Nun, wohlklingend und wahrlich hochgesteckt sind die Ziele, das muss man zugeben. So soll der erfolgreiche Maturant „Expertisen und deren Integration in den jeweiligen (mathematischen) Kontext“beurteilen können. Dazu erwirbt er sogenannte Grundkompetenzen. In diesen „müssen vielfältige Aspekte auffindbar sein, wie beispielsweise jene der Generalisierung und operativen Beweglichkeit, der verständige Umgang mit grundlegenden Begriffen und Konzepten sowie deren geometrische Veranschaulichung, die Verwendung von Funktionen als (mathe- matisches) Werkzeug sowie die Bereitstellung von Konzepten zur formalen und operativen Beschreibung diskreter und stetiger Änderungsverhalten oder die Verwendung von Darstellungsformen und (grundlegenden) Verfahren der Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie“. So weit die Theorie.
Und wie sieht so etwas in der Praxis aus? Betrachten wir einige konkrete Beispiele aus der letztjährigen Matura. Da gab es beispielsweise eine Aufgabe mit einer Zeichnung, bei der ein Winkel zu ermitteln war (Teil 1, Nr. 6). Findige Maturanten haben sich die Mühe des Rechnens erspart und den Winkel mit dem Geodreieck einfach abgemessen. Da nur die richtige Lösung zählt, konnten sie diesen Punkt mit dem Wissen eines Erstklässlers erlangen. Ist so etwas beabsichtigt oder eine Blamage für die Autoren der Aufgabe? Pikant ist aber eine andere Frage: Wie legitimiert sich im oben skizzierten Konzept überhaupt eine trigonometrische Aufgabe? Inwieweit fördert die Fähigkeit, einen Winkel zu berechnen, die „Kommunikation mit Expertinnen und Experten“? Wer ist damit gemeint? Soll der so geprüfte Maturant nun in der Lage sein, mit dem Bauingenieur über die Statik einer Brücke oder mit dem Chirurgen über die biomechanischen Herausforderungen eines orthopädischen Eingriffs zu diskutieren? Ja, Trigonometrie ist mathematisch grundlegend; sie zu beherrschen wird in zahlreichen Studienrichtungen vorausgesetzt. Sie ist unverzichtbar.
Die einzige ernsthafte Legitimation, sich im Gymnasium mit Sinus, Cosinus und Tangens herumzuplagen, liegt in der Tatsache begründet, dass mit der Matura die allgemeine Hochschulreife verliehen wird. Es geht also um Studierfähigkeit. Und keineswegs um den nebulosen Anspruch einer „Reflexion und Kommunikation in und über Mathematik“. Wenn dem aber so ist, dann wäre es die Pflicht einer verantwortungsvollen Bildungspolitik, den mathematischen Anspruch hochzuhalten, statt sich mit der elektronikgestützten Berechnung eines Winkels im rechtwinkligen Dreieck zu begnügen. Das war 2017 übrigens das einzige trigonometrische Beispiel.
Eine andere Aufgabe im entscheidenden Teil 1 hatte mehr mathematische Substanz. Es galt, die Halbwertszeit eines radioaktiven Isotops, ausgehend vom gegebenen Zerfallsgesetz, zu berechnen (Nr. 12). Das ist nun nicht besonders schwer, aber immerhin ein Klassiker, bei dem eine korrekte Gleichung aufgestellt und anschließend das elementare Rechnen mit Logarithmen beherrscht werden muss. Doch halt! Bei der österreichischen Reifeprüfung reicht es, die erste Zeile, den sogenannten Ansatz, richtig hinzuschreiben. Ein Fehler bei der Berechnung, selbst ein gravierender, wird nicht berücksichtigt – so geschehen bei einer meiner Schülerinnen. Der Umgang mit dem Logarithmus – einem der elementaren Begriffe der höheren Mathematik – ist überhaupt nicht vonnöten! Entweder die Rechnung erledigt der Taschenrechner, oder man darf etwas Falsches hinschreiben. Die Lehrkraft hat ja für jede Aufgabe nur einen Punkt, und den muss sie laut Lösungsvorgabe vergeben, sobald der Ansatz oder eben die bloße Lösung richtig ist.
Wer jetzt glaubt, im anspruchsvolleren Teil 2 würden wahre mathematische Herausforderungen zu finden sein, irrt. Ja, Herausforderungen gibt es dort massenweise, sie liegen aber nicht wirklich auf mathematischem Gebiet; vielmehr ist es eine überbordende Textlastigkeit, die mathematisch teilweise simple Sachverhalte bis zur Unkenntlichkeit aufbläht und damit unnötige Hürden schafft. So hing in einem Fall (Nr. 1a) die Entscheidung, ob es für die Aufgabe null Punkte oder einen Punkt gibt (mehr werden wohlgemerkt nicht vergeben), davon ab, ob ein kleines hochgestelltes „+“beachtet wird. Natürlich lässt sich argumentieren, genau auf diese Details käme es ja in dieser so exakten Wissenschaft an. Was das aber mit dem obigen Bildungskonzept zu tun hat, bleibt schleierhaft. Niemand kann auch nur abschätzen, ob sich bei einer falschen Lö- sung ein mangelndes Verstehen zeigt oder bloß ein flüchtiges Überlesen eines Details passiert ist. Wir merken: Ein Flüchtigkeitsfehler beim Lesen wird mit 0 Punkten bestraft, Rechenfehler hingegen sind praktisch irrelevant!
Es mag für viele eine positive Errungenschaft sein, dass bei einigen der Aufgaben verbale Begründungen und Interpretationen verlangt werden. Das klingt zwar nach Fortschritt, ist im gegebenen Prüfungskontext allerdings höchst problematisch. Denn bekanntlich ist wissenschaftlich korrektes Formulieren eine der größten Herausforderungen – selbst für studierte Fachleute. Ein (sprachlich vielleicht minder talentierter) Schüler in einer Prüfungssituation gerät sehr rasch an die Grenzen seiner Ausdrucksfähigkeit, worunter unweigerlich die Präzision leidet. Und da beginnt der Ermessensspielraum des Korrigierenden. Doch wer nur einen Punkt zu vergeben hat, steht häufig vor folgendem Dilemma: den Punkt anrechnen, auch wenn nicht jedes Wort trifft oder gar neben einer richtigen Antwort noch ein falscher Satz steht; oder aber sehr genau sein und den Punkt verweigern, obwohl der Kandidat vielleicht das Richtige gemeint hat?
Beispiel gefällig? Da gab es 2017 eine Maturaaufgabe, in der es darum geht, einen aus einem Schaubild richtig abgelesenen Wert zu interpretieren, und ein Kandidat schreibt, der Wert gebe die Muskelkraft an, falls der Muskel nicht kontrahiert sei, obwohl es richtig heißen müsste: Der Wert beschreibt die mögliche Kraft des Muskels in Ruhe (Teil 2, Nr. 2). Ganz verstanden habe ich den biologischen Sachverhalt allerdings auch nicht. Ein Blick in Wikipedia belehrte mich, dass das mit der Muskelkontraktion keine so einfache Sache ist. Auch ein unbewegter Muskel kann als kontrahiert gelten, seine Geschwindigkeit ist dann null; umgekehrt kann er in Bewegung sein, ohne dass Kraft aufgebaut wird. Denn es gibt neben der auxotonischen auch die isotonische Muskelkontraktion und noch viele weitere Varianten, etwa die exzentrische Kontraktion, bei der . . . Aber nein, so genau wollen wir es nun auch wieder nicht wissen. Dem Funktionsgraphen in der Aufgabe entnehmen wir: maximale Kraft vorhanden, falls Geschwindigkeit null ist. Das reicht. Was genau das mit unseren Muskeln zu tun hat und ob es irgendwie unserer Erfahrung entspricht, egal. So wird Realitätsnähe vorgegaukelt und dem Entstehen von Halbwissen Vorschub geleistet.
Das alles ist nicht neu. Aus der Feder zweier an deutschen Universitäten forschender Fachdidaktiker stammt eine fundierte, aber leider vernichtende Kritik an der neuen österreichischen Matura, die bereits 2016 erschienen ist. Deren Fazit: „Klar erkennbar ist der politische Wille, dass bereits mit sehr elementarer Mathematik (fast nur eine gewisse Alltagsmathematik) die Matura bestanden werden kann.“Ein mediales oder gar politisches Echo gab es nicht. Es ist frustrierend und letztlich gesellschaftlich gefährlich, dass im Zuge der so erfolgreichen Kompetenzrhetorik Inhalte so weit ausgedünnt werden, dass an wirklich relevantem und verfügbarem Wissen nicht viel übrig bleibt. Das aber bedroht die Studierfähigkeit, was sich in den technisch-naturwissenschaftlichen Fächern verheerend auswirkt.
Und da solche Moden nicht auf österreichischem Mist gewachsen sind, haben voriges Jahr 120 Fachleute in Deutschland – Universitätslehrer und Schuldirektoren – in einem offenen Brief Alarm geschlagen. Dort heißt es: „Im Rahmen der Kompetenzorientierung, die der ganzen Republik in Form von Bildungsstandards vorgeschrieben wird, wurde der Mathematik-Schulstoff so weit ausgedünnt, dass das mathematische Vorwissen von vielen Studienanfängern nicht mehr für ein WiMINT-Studium ausreicht.“Bedroht sind also vor allem die Fächer Wirtschaft, Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Österreich freilich vollzieht diese Kompetenzrevolution besonders radikal. Man vergleiche einfach die österreichischen Aufgaben mit dem Zentralabitur in Bayern. Auch als Laie erkennt man rasch den himmelschreienden Unterschied. Dem Praktiker, der täglich im Klassenzimmer steht, bleiben nur Zorn, Frust und Trauer – und die leise Hoffnung auf die Vernunft der amtierenden Regierung.
Österreich vollzieht die „Kompetenzrevolution“besonders radikal: himmelschreiender Unterschied zum bayerischen Zentralabitur! Ich hatte vergangenes Jahr zwei Maturakandidaten mit derselben Punktezahl. Der eine bestand, der andere fiel durch. Wie das?