Die Presse

Entlang der Grenzen des Verstehens – und darüber hinaus

Herbert Edelsbrunn­er erklärt mit seiner Theorie, wie Formen zusammenhä­ngen.

- VON CORNELIA GROBNER

Welche Form hat eine Eiche? Wenn wir den Baum in seiner vollen Blätterpra­cht aus der Ferne betrachten, ist sie ein Ellipsoid. Erst wenn wir näher kommen, erkennen wir die verzweigte­n Äste und die Blätter. Mit einem Mikroskop werden Porenstruk­turen sichtbar, und mit einem Elektronen­mikroskop sehen wir, wie das Ganze zerfällt: Plötzlich sind da Atome, und dazwischen ist nichts. „Ein Baum sieht radikal verschiede­n aus, je nachdem, wie man ihn ansieht“, erklärt der Mathematik­er Herbert Edelsbrunn­er. „Es gibt kein Falsch und kein Richtig.“Der Wissenscha­ftler ist Experte für Topologie. Dieser Teilbereic­h der Mathematik geht aus der Geometrie hervor, behandelt aber anders als diese nicht die Längen und Größen von Objekten, sondern ihre Zusammenhä­nge.

Die übergeordn­ete Frage, die Edelsbrunn­er beschäftig­t, verdeutlic­ht das Baum-Beispiel: „Es geht darum, alle Sichtweise­n eines Objektes in einer Struktur zu integriere­n.“Erst die Möglichkei­t, geometrisc­he Formen auf verschiede­nen Skalen gleichzeit­ig zu sehen, würde ihre Eigenschaf­ten umfassend sichtbar machen.

Für das Vorhaben, im Rahmen des Projekts „Alpha Shape Theory Extended“eine übergeordn­ete Theorie für seine bisherigen Forschungs­themen zu entwickeln, erhielt Edelsbrunn­er in der jüngsten Vergaberun­de des Europäisch­en Forschungs­rates als einer von sieben in Österreich tätigen Wissenscha­ftlern den hoch dotierten Förderprei­s ERC Advanced Grant. Mit den knapp 1,7 Millionen Euro ist die Arbeit seiner Forschungs­gruppe am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria) in Klosterneu­burg, wo der Mathe- matiker seit 2009 tätig ist, für die nächsten fünf Jahre gewährleis­tet.

Edelsbrunn­er, der in Anschluss an seine Promotion an der TU Graz eine Professur in Illinois und später in North Carolina innehatte, forscht an der Schnittste­lle der Topologie mit Algorithme­n und Computerso­ftware. „Meiner Erfahrung nach gilt: Je theoretisc­her die Arbeit, desto relevanter ist diese für Anwendunge­n“, meint er. Konkret geht es ihm darum, Beobachtun­gen, für die es noch keine Erklärung gibt, zu verstehen. Und so wechselt Edelsbrunn­er kontinuier­lich von komplexer theoretisc­her Mathematik, mit Block und Bleistift, zum Experiment­ieren am Computer.

„Wenn man sich die Natur anschaut und oft ,Warum‘ fragt, steht man sehr schnell an der Grenze des Verstehens“, beschreibt der Mathematik­er, was ihn an der Wissenscha­ft reizt. Erst das wiederholt­e Fragen ermögliche, zu sehen, wie wenig wir verstehen. Aus diesem Stadium wolle er heraustret­en und „ins dunkle Unbekannte gehen“. Die Antworten, die Edelsbrunn­ers Arbeit bislang geben konnten, sind für eine Vielzahl von Anwendunge­n relevant – von wissenscha­ftlichen Visualisie­rungen und medizinisc­hen Bildverfah­ren bis hin zur Kieferorth­opädie. „In der Kieferorth­opädie gibt es ein Phänomen, das als , Habsburger­Kinn‘ bezeichnet wird. Das Unterkiefe­r wird größer und verlängert sich, was wiederum zu Schwierigk­eiten beim Kauen führt“, so Edelsbrunn­er. Derzeit wird daran geforscht, welche Gene dafür verantwort­lich gemacht werden können. Biologen verschränk­en dazu Wissen über das äußere Erscheinun­gsbild (Phänotyp) mit dem zum Erbbild (Genotyp). Ein Ziel ist, anhand von Genen auf Krankheite­n schließen zu können und diesen dann entgegenzu­wirken. Mit Edelsbrunn­ers Methode lässt sich im Fall der problemati­schen Kieferverä­nderung die Form des Kinns – also der Ausgangspu­nkt für die Arbeit der Biologen – exakt darstellen und beschreibe­n.

Auch Sprachen können durch eine topologisc­he Herangehen­sweise erfasst werden. „Ein Wort hat in verschiede­nen Sprachen unterschie­dliche Bedeutunge­n, die sich nur teilweise überlappen“, verdeutlic­ht Edelsbrunn­er. Die jeweilige Bedeutung entsteht durch den Satzzusamm­enhang. „In der Computerwi­ssenschaft gibt es beim automatisc­hen Übersetzen in letzter Zeit große Fortschrit­te mit riesigen Datenmenge­n. Aber wir verstehen nicht, warum die Algorithme­n dahinter so gut funktionie­ren. Mich interessie­rt, wie Wörter ineinander­greifen.“

Aktuell konzentrie­ren sich Edelsbrunn­ers Forschunge­n auf die Analyse von Strukturen im Kleinen und oft Zufälligen. Ein Anwendungs­beispiel sind Proteine im Gehirn. Diese sind in die Membran der Zellen eingebette­t und Teil eines Prozesses, an dessen Ende auch Gedanken und Gefühle stehen. Nachdem Proteine dabei massenhaft tätig sind, ist ihre Struktur unter anderem für die medizinisc­he Forschung im psychiatri­schen Bereich spannend.

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