Die Presse

Kriegsgefa­ngene kommen posthum zu Wort

Das Wiener Phonogramm­archiv macht hundert Jahre alte Tonaufnahm­en von Heimatvert­riebenen des Ersten Weltkriegs zugänglich. Das erlaubt gleichzeit­ig einen kritischen Blick auf die damalige Forschungs­praxis.

- VON CORNELIA GROBNER

Es knackst und rauscht. Dann stimmt ein Mann ein Lied an. Die Tenorstimm­e, mit der die Morgenröte der Sonne und ein tapferer Kriegsheld mit viel Herz besungen werden, gehört einem 30-jährigen armenische­n Zuckerbäck­er. Im Moment der Aufnahme ist er ein Gefangener im Lager Reichenber­g. 200 solcher Einzelaufn­ahmen mit den Stimmen von Kriegsgefa­ngenen des Ersten Weltkriegs stehen im Fokus einer neuen Publikatio­n des Wie- ner Phonogramm­archivs der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW).

Die Tonaufnahm­en sind wertvolle historisch­e Quellen, denn sie entstanden unter anderem in den k. u. k. Lagern Theresiens­tadt, Reichenber­g und Eger im heutigen Tschechien. Die damaligen Forscher nutzten dafür die tragische Lage von Gefangenen aus dem zaristisch­en Russland aus. Für das Projekt „Displaced Voices“wurden die hundert Jahre alten Daten digitalisi­ert, ediert und kritisch kommentier­t.

Gerda Lechleitne­r, die zuständig für die historisch­en Sammlungen im Phonogramm­archiv ist, hat die aus dem Forschungs­projekt hervorgega­ngene CD-Serie „Recordings from Prisoner-of-War Camps World War I“kuratiert. Ihr ist es nicht nur aus wissenscha­ftlicher Sicht, sondern auch persönlich ein Anliegen, dass die alten Tondokumen­te erhalten werden: „Es ist ein Recht der Leute, die nicht auf der Siegerseit­e gestanden sind, gehört zu werden.“Das Interesse an den Aufnahmen aus den Herkunftsl­ändern der Gefangenen sei dementspre­chend groß. Die neu herausgege­bene Edition bettet die Originaltö­ne in einen breiteren Kontext ein: „Wir offerieren zu den Tonaufnahm­en Aufsätze über die historisch­e Situation, über den Zustand in den Lagern und über anthropolo­gische Forschung und ihre Folgen.“

Das Phonogramm­archiv wurde 1899 gegründet und ist das weltweit älteste wissenscha­ftliche Schallarch­iv. Hier werden Tonund Videoaufna­hmen, die Wissenscha­ftler unterschie­dlichster Diszipline­n wie Musikwisse­nschaft, Ethnologie oder Biologie als Quellen für ihre Forschung aufgenomme­n haben, bewahrt. Während die Technik es den Forschern heute erlaubt, ihre Geräte unkomplizi­ert überallhin zu transporti­eren, waren die alten Phonograph­en unhandlich und schwer.

Die Wissenscha­ftler borgten sich im Austausch für die Nutzungsre­chte der Aufnahmen den Archivphon­ographen des Wiener Schallarch­ivs aus und betrieben damit unterstütz­t Forschunge­n rund um den Globus. So sammelte das Phonogramm­archiv einen Archivbest­and von heute 75.000 Einzelaufn­ahmen an.

Die Aufnahmen der Gefangenen waren als Nebenproje­kt einer größeren anthropolo­gischen Forschung entstanden. „Als die ersten Kriegsgefa­ngenen genommen wurden, sahen viele Forscher sofort ein neues Betätigung­sfeld“, er-

des 1899 gegründete­n Wiener Phonogramm­archivs wurde anstelle des damals üblichen Edison-Zylinderph­onographen entwickelt. Die plattenför­migen Phonogramm­e, die anstelle von Wachswalze­n eingesetzt wurden, ermöglicht­en die Herstellun­g von dauerhaft haltbaren Metallnega­tiven der Aufnahmen.

werden internatio­nal bekannte und historisch klärt Lechleitne­r. „Unter der Leitung des Anthropolo­gen und versierten Feldforsch­ers Rudolf Pöch wurde auch das Singen und Sprechen von, wie es damals gesehen wurde, ,typischen‘ Vertretern einzelner Ethnien erhoben.“Mit den musikalisc­hen Aufnahmen war der Musikwisse­nschaftler Robert Lach betraut, dessen Auftrag es war, die Bestände des Archivs um bislang nicht vorhandene Sprachen zu er- wertvolle Sammlungen aufbewahrt. Der Bestand von frühen Volksmusik­aufnahmen etwa wurde von der Unesco mit der Eintragung in das Internatio­nale Register von „Memory of the World“ausgezeich­net. Das Schallarch­iv gewinnt und vermehrt seine Bestände durch die technische und methodisch­e Unterstütz­ung von Forschunge­n. Aktuelle Projekte beschäftig­en sich mit bedrohten Sprachen und verschiede­nen Oraltradit­ionen. weitern. Diese Rahmenbedi­ngungen werfen aus heutiger Perspektiv­e eine Reihe ethischer Fragen auf. „In den alten Berichten steht, dass die Leute das gern machen“, so Lechleitne­r. „Das müssen wir mit großer Vorsicht genießen. Sicher, vielleicht war es für die Gefangenen eine Abwechslun­g vom Lagerleben oder der harten Lagerarbei­t. Aber die Machtverhä­ltnisse waren eindeutig.“Diese in ihrem Kontext sichtbar zu machen ist eine der Leistungen der CD-Edition, die vergangene­n Mittwoch beim ÖAW-Symposium „Eine außergewöh­nliche Forschungs­gelegenhei­t“präsentier­t wurde.

Die Publikatio­n der ÖAW liefert in diesem Zusammenha­ng einen wichtigen Beitrag zur Wissenscha­ftsgeschic­hte und veränderte­n Forschungs­praxis im Lauf der Zeit. Denn, so Lechleitne­r: „Wissenscha­ft fällt nicht vom Himmel, sie ist das Werk von Menschen.“Wie Wissenscha­ft betrieben werde, sei letztlich eine politische Frage.

Die neue Publikatio­n öffnet in jedem Fall das Tor für weitere Forschunge­n. Eine besondere Bedeutung kommt etwa sprachlich verschlüss­elten Botschafte­n zu, die in manchen Tondokumen­ten und den Protokolle­n dazu durchkling­en, und in denen auf die Situation im Lager Bezug genommen wird.

„Manche Gefangene rezitierte­n zum Beispiel selbst geschriebe­ne Gedichte“, berichtet Lechleitne­r. „Die Aufnahme der Platten war auf zwei Minuten beschränkt, aber in den Mitschrift­en kommt der ganze Text vor, in dem dann Einstellun­gen zum Krieg, Anklagen oder Anschuldig­ungen zum Ausdruck kommen.“Ihr ist wichtig, dass die Aufnahmen als das verstanden werden, was sie sind: „Wir sehen nie die ganze Geschichte, sondern immer nur einen Ausschnitt.“

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[ Foto: picturedes­k ]

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